Achtung. Achtung. Achtung.
Wir sind umgezogen!

Januar 2021

Das Büro für besondere Maßnahmen ist ab sofort erreichbar auf mojour.de

Nach und nach werden alte Beiträge – ggf. aktualisiert und überarbeitet – dorthin umziehen. Bitte folgen ... :-)

Donnerstag, 31. Dezember 2009

willkommen zwanzigzehn!

„well, I must say that everything looks very nice!“.... sagte miss sophie, als sie im großen schwarzen abendkleid, ausgestattet mit um die schultern drapierter wolldecke und fingerlosen handschuhen von der galerie herab in die scheinbar unbeheizte halle trat, wo ihr treuer butler james bereits den tisch gedeckt hatte für ein gesetztes fünf-personen-geburtstags-dinner, von denen außer der gastgeberin niemand anwesend war und auch niemand mehr erwartet wurde.




es sieht alles sehr gut aus. ich gebe mir jetzt einfach mühe, das heute für mich auch so zu sehen:

mein saal ist mollig warm geheizt, immerhin. auf meinem tisch leuchten frische rosen, die wohnungen unter mir sind still verlassen (das ist wichtig, weil die vermietermischpoke auch das extra laute obernervige steirische polka-akkordeon mitgenommen hat) - und über den bergen im osten steigt der vollmond empor. das sieht wirklich alles sehr gut aus.

ich bin so froh, dass dieses olle jahrzehnt mit der doppelnull in der mitte endlich zu ende geht. die nichtigen nichtsnutzigen ungezogenen naughties sind vorbei - neun jahre fürs klo! dabei hatte mein Y2K so gut angefangen, damals.

vor zehn jahren war ich noch in berlin, hatte gerade aufgehört mit dem alkohol und beschlossen, ohne drogen ins neue jahrtausend zu gehen. welch eine heldentat! welch ein mut! zuversichtlich blickte ich in eine klare, unbenebelte zukunft. hätte ich gewusst, was mich erwartet .... aber ich habe es nicht gewusst. später habe ich dann diesen sportlichen ehrgeiz entwickelt, nüchtern zu bleiben. meiner würde wegen. ganz egal wie schlimm es noch kommt.

um mitternacht standen wir auf der brücke über den s-bahngleisen in der kreuzberger monumentenstraße und stießen an mit kräutertee - mein schöner, geliebter, kreativer mann und ich.

die große stadt um uns herum versank im suff – und im dichten nebel. wir waren ein bißchen schadenfroh, weil vom großen millenniumsfeuerwerk am brandenburger tor rein gar nichts zu sehen war und all die sensationsgierigen fuzzis da oben in den kreisenden hubschraubern und privatflugzeugen über uns so viel geld für eine nebelpartie verpulvert hatten.

am nächsten morgen habe ich den mann verlassen. „ich vögel dich gerne, aber ich liebe dich nicht,“ hatte er gesagt. solange ich noch trank, habe ich das irgendwie ausgehalten. ausgeschlafen und nüchtern ertrug ich es nicht. also bin ich gegangen. ich wußte in dem augenblick noch gar nicht, dass das endgültig war. natürlich hatte ich gehofft, dass er seine meinung noch ändert und mich bald wieder anrufen würde. er hat sich nie wieder gemeldet.

ich hatte das zusammensein mit ihm so sehr genossen. ich habe ihn so sehr geliebt! er hatte eine wunderbare art, mir beim spazierengehen die hand auf die schulter zu legen, dass es ganz leicht war. er hing nicht an mir dran, wie manch anderer. er ließ seinen arm einfach nicht schwer werden. er war immer wach und präsent, aber niemals belastung.

ich war unendlich traurig darüber, dass wir uns nicht mehr sahen – und gleichzeitig fassungslos, weil er mich wirklich hatte gehen lassen. ich übernahm zusätzliche schichten. die arbeit in der redaktion lenkte mich ab und half mir, die trennung ohne alkohol zu überstehen.

das war vor zehn jahren.

vor zwanzig jahren habe ich silvester und neujahr in japan verbracht. das war eine ganz andere welt, damals bei meinen geishamüttern in kyoto.

kein lautes getöse und geböller, kein geistloses besäufnis mit jubeltrubel, keine zwangsgutelauneaufbestellung – sondern eine stille, besinnliche nacht in heiterer gelassenheit.

party ist in japan eher an weihnachten – weil da der sohn vom christengott geburtstag hat. also gibt es christmasparty mit weihnachtstorte: die torte ist vorzugsweise aus sahne mit erdbeeren. nicht, dass erdbeeren an weihnachten in japan besonders reif und billig wären – ganz im gegenteil: die werden aus der ferne eingeflogen und sind kostbar einzeln verpackt wie pralinen! aber nichts sonst sieht für japanische augen so sehr aus wie weihnachtsmänner im schnee.

frauen werden in japan übrigens gerne mit dem rot-weißen sahne-erdbeer christmas-cake verglichen: es heißt, nach dem fünfundzwanzigsten seien wir nicht mehr frisch. im klartext: eine frau, die mit 25 noch nicht verheiratet ist, gilt als ungenießbar. eine vergleichbar abwertende redewendung für männer gibt es in japan natürlich nicht. aber das nur am rande.

zurück zur neujahrsnacht in japan:

ganz im gegensatz zu uns, wo man zwischen weihnachten und dreikönig am besten alles stehen und liegen lässt, was irgendwie mit haushalt und wäsche waschen zu tun, damit sich nicht böse geister darin festsetzen können, die man dann das ganze jahr über nicht mehr los wird, muss in japan das neue jahr blitzeblank begrüßt werden!

beim putzen und schrubben und polieren kommt die japanische hausfrau also im alten jahr noch einmal ordentlich ins schwitzen. nach der äußeren putzete ist dann der eigene körper dran. letzteren brauch habe ich übernommen: seither beschließe ich mein altes jahr mit einem vollbad – am liebsten in meersalz mit rosenblüten. salz reinigt. sehr spirituell und auch in echt! und der ganze dreck vom alten jahr gurgelt auf und davon durch den abfluss auf nimmer wiedersehen. wunderbar!

später am abend saßen wir bei freunden und aßen toshikoshi-soba: lange jahresendnudeln aus buchweizenmehl. für ein langes leben, und um immer beieinander zu sein mit dem herzen.

nach mitternacht machten wir uns auf den weg zum tempel der familie, zum ersten gebet. es hatte geschneit, mit vielen anderen stapften wir zu fuß durch den wald, eine kalte nacht. wieder zurück im haus, gab es eine klare suppe mit mochi. klebrige, glibbrige, absolut köstliche reismehlknödel, ohne die das neue jahr nicht beginnen kann!

bis all das erledigt ist, ist die nacht schon fast rum, und das ist auch sinn der sache. mit dem beginn des neuen jahres wird die wiedergeburt des lichts gefeiert. die große mutter, die sonnengöttin amaterasu omikami wird geehrt, und man darf nicht schlafen gehen, bevor man nicht die neujahrssonne gesehen und ehrfürchtig begrüßt hat!

die neujahrssonne begrüßen ohne vorher eine runde zu schlafen, das finde ich hier in meinen breitengraden wirklich schwierig. diese deutsche winternacht ist mir einfach zu lang, um durchzumachen! zum ausgleich mache ich dann in der frühe einen doppelten sonnengruß und hoffe, dass die große göttin das als angemessen empfindet.

mit dem ende dieser nacht beginnt das jahr des tigers. das ist mein jahr, das wird gut, das weiß ich: da bin ich unter gleichgesinnten – auch wenn wir tigressen sonst eher einzelgängerInnen sind.

ich denke ja immer, dass die erde eigentlich hopsen müsste um mitternacht, weil ein neues jahr beginnt. ist aber nicht so. sie dreht sich einfach weiter.

trotzdem wäre ich nicht überrascht, wenn‘s hüpfen täte: zwanzigzehn kann kommen. es sieht alles gut aus. ich zünde mein bestes räucherwerk und gebe euch einen ringelnatz mit auf den weg:

„ein rauch verweht, ein wasser verrinnt, eine zeit vergeht, eine neue beginnt.“

fangt‘s gut an!


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Samstag, 26. Dezember 2009

kindheitserinnerungen II - der bademantel

manchmal finde ich es beruhigend, dass es dinge gibt, die sich nicht verändern, die jahr um jahr gleich bleiben. kleine rituale im alltagswirbel, die mir halt geben. eines dieser rituale ist, tatsächlich, dass ich mir jahr für jahr alle drei teile von sissi anschaue, wenn meine zeit es erlaubt. die kaiserin von österreich wird in meiner vorstellung immer jung und schön bleiben, so wie sie es in meiner kindheit war.



als kleines mädchen liebte ich diese filme so sehr, weil es für mich so unvorstellbar schön war, wie sehr diese frau geliebt wurde. zumindest sah es in den filmen so aus. sie hatte eine mutter, die für sie sorgte. sie hatte einen vater, mit dem sie sprechen konnte. sie hatte geschwister, mit denen sie lachen konnte. und sie hatte sogar einen mann, der ihr sagte „ich liebe dich“. unfassbar – für mich war schon damals klar, dass es all das nur im märchen geben konnte. oder im film eben.

bei uns wurde nicht gelacht. wenn ich etwas sagte, das mir wichtig war, dann hörte ich die mutter fauchen und keifen: „kind, do bess verdötsch!“ oder „do häss ene katsch em kappes“. der vater ignorierte mich bestenfalls. hatte er publikum, dann machte er sich über mich lustig und ließ keine gelegenheit aus, mich vor anderen bloßzustellen.

damals liebte ich es sehr, mich in vaters großen bademantel zu hüllen. der bademantel war schwer und glänzend glatt, aus dunkelgrünem velourfrottee mit einem schalkragen und dunkelroten streifen. ich liebte diesen bademantel so sehr, weil er nach vater roch, nach großem starken mann – und weil ich mich sehr sicher und behütet fühlte, wenn ich ihn trug.

der saum war viel zu lang war für mich, er kringelte sich um meine füße wie ein wärmendes pelztier, ich zog ihn hinter mir her wie eine schleppe. um nicht zu stolpern über diesen saum, ging ich sehr gerade, sehr aufrecht. ich fühlte mich wie eine kaiserin, ich war sissi vor ihrer krönung zur königin von ungarn.

der alte bademantel hatte für mich eine magische bedeutung: so lange ich ihn an hatte, fühlte ich mich stark, geliebt und bewundert. wenn ich den bademantel trug – immer nur heimlich, solange die eltern aus dem haus waren, denn sonst wären sie wieder über mich hergezogen – dann ging die macht des vaters durch seinen bademantel auf mich über, und ER erschien mir weniger furcht einflößend.

so schritt ich durch unsere dunkle, enge mietwohnung, auf und ab und hin und her, hoch erhobenen hauptes, mit geradem blick und ohne angst. ich hielt hof vor imaginären untertanen und nahm bescheiden ihre huldigung entgegen. ich stellte mir vor, wie es wäre, geliebt und respektiert zu werden.

die insignien meiner macht versenkte ich tief in den großen taschen meines riesigen krönungsmantels: eine murmel, mein feinstes spitzentaschentuch und die kaputte barbie-imitatpuppe.

eines tages war „mein“ bademantel verschwunden. am bettende des vaters lag ein anderer, ein neu gekaufter, völlig belangloser versandhausbademantel mit kapuze. ich war sissi ohne kleid, meiner insignien beraubt.

irgendwann einmal erfuhr ich von der mutter, dass sie „den alten hund“ - wie sie abfällig zu sagen pflegte über unansehnlich gewordene dinge, die ihr lange treue dienste geleistet hatten - mit einem adventspäckchen zu einer alten freundin in die DDR geschickt hatte. ich war entsetzt, aber ich sagte nichts. sie hatte das königreich meiner kindheit zerstört.

wie ich schon vor zwei tagen schrieb, bin ich heute kaiserin in meinem eigenen reich, so gut es eben geht. leider sind die schatten von damals sehr hartnäckig. bis heute fällt es mir schwer, zu glauben, dass ich ein recht darauf habe, ungestraft die zu werden und zu sein, die ich wirklich bin.

dann sitze ich wie jetzt - gehüllt in meinen aktuellen lieblingsbademantel aus kaiserlichem purpurfrottee, aus dem die katzen zu lebzeiten wohlig tatzelnd unzählige fäden zogen - vor meinem computer und denke, dass ich unbedingt bis mitternacht fertig sein muss mit diesem text. gelingt mir das nicht, löst sich der ganze spuk in luft auf: mit dem zwölften glockenschlag, da bin ich mir sicher! ist der zauber vorbei! dann wird mein seidenes nachtkleid zum aschefleckigen küchenkittel, das notebook zum kürbis - und die maus wird zur maus!


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Donnerstag, 24. Dezember 2009

der geburtstag der kaiserin

die kaiserin feiert geburtstag heute. das heißt, sie feierte, so sie noch lebte. das tut sie aber nicht, schon lange nicht mehr. ne ganze menge menschen auf diesen planeten feiert heute den geburtstag eines mannes, der auch schon lange nicht mehr lebt. deswegen denke ich, es ist höchste zeit für ein frauliches gegengewicht!


von sissi ist natürlich die rede, mit deren geschichte ich aufwuchs, allweihnachtlich, um genau zu sein. genau deswegen werden die alten filme mit romy schneider ja so regelmäßig wiederholt: weil die sissi a christkinderl war.

dabei scheint der 24. dezember ein allseits beliebter geburtstag zu sein. meiner schwester ist das auch gelungen, der coup mit dem christkindlsgeburtstag. ava gardner ebenso. von den gut 180 geburtstagskindern, die die wikipedia aktuell für heute auf der liste hat, ist sissi übrigens die einzige frau der ersten 1900 jahre unserer zeitrechnung. im zwanzigsten jahrhundert sind dann 15 der 120 geburtstagskinder weiblich – also immerhin zwölfeinhalb prozent. aber das ist sicher nur zufall, dass an heiligabend so wenig frauen geburtstag haben.

weil ich mit weihnachten nix am hut hab, feier ich also heute der sissi ihren geburtstag, ganz kaiserlich, im haus meiner kaiserlichen freundin. der tisch scheint sich zu biegen unter dem üppigen buffett, seit tagen – ach was sage ich? seit wochen!! - ist sie in ihrer kleinen küche mit dem zaubern der kostbar-köstlichsten verführungen beschäftigt. gäste sind geladen und werden erwartet oder sind schon eingetroffen.

von sissi weiß ich nicht mehr als das, was in den büchern steht. in meinen ersten lebensjahren habe ich natürlich alles geglaubt, was in den filmen vorkam. später nicht mehr.

vor ein paar jahren habe ich urlaub gemacht auf korfu. diese schöne insel kannte ich ja schon aus ihren filmen. da habe ich mir gedacht: was für die kaiserin das beste, das ist für mich gerade gut genug. die insel, auf der die sissi von ihrer lungenkrankheit genesen ist, sollte wohl bestens geeignet sein, um mich vom stress und den demütigungen eines lebens mit hartz4 zu erholen. also habe ich damals meine letzten ersparnisse für einen urlaub am meer verprasst - und ich habe mich tatsächlich bestens wohl gefühlt dort!

auf korfu, nicht weit weg von der inselhauptstadt an der ostküste, kann man noch heute den sommerpalast der kaiserin besichtigen. sich ansehen, wie (relativ) schlicht sie dort gelebt hat, fernab vom unmenschlich einschnürenden spanischen hofzeremoniell, das den klugen, eigensinnigen wildfang magersüchtig hatte werden lassen. für meinen geschmack ist ihr achillion-palast zwar ein bißchen zu weit weg vom meer und ein bißchen zu hoch auf dem berg, aber die aussicht von dort oben ist in der tat gigantisch kaiserlich.

in die insel korfu habe ich mich geradezu hineinverliebt, die zeit dort habe ich sehr genossen. falls ich es mir jemals wieder werde leisten können, ans meer zu fahren, so würde ich wieder dort landen, in meiner blauen lieblingsbucht, in dem kleinen haus direkt am strand, zimmer mit balkon und blick aufs meer, aufs meer! aufs meer, das ich so sehr liebe; wo man das rauschen des kristallklaren wassers immer immer um sich hat: das hat sogar meinen tinnitus besänftigt. zeitweilig.

wenn ich heute den geburtstag der kaiserin feiere, dann gedenke ich dabei auch meiner eigenen inneren kaiserin, der wilden frau, die ich bin, mit all meinen eigenen sinnen, mit all meinem eigen-sinn. ich denke an mich und ich feiere mich, meine kaiserliche freundin und ich, wir feiern uns, wir lassen uns feiern und geben mit vollen händen und überfließenden herzen, weil das zum feiern dazugehört.

meine innere kaiserin hat jeden tag geburtstag. oft muss ich mich tatsächlich täglich neu daran erinnern, sie immer wieder aufs neue zu entdecken, hervorzuholen unter dem alltagsgerümpel. denn bisweilen hockt sie klein und still und grau zwischen den vielen schichten aus demütigungen und enttäuschungen, aus schmerzen und angst, die – übereinander gelegt – das ge-schichte meines lebens sind.

beim entdecken meiner persönlichen kaiserin hat mit ein ganz besonderes buch sehr geholfen, das mich nun schon seit vielen jahren begleitet. „der weg der kaiserin“ heißt es. die autorinnen christine li und ulja krautwald erzählen darin die geschichte der chinesin wu zhao, ihren aufstieg von der konkubine zur mächtigsten frau des reiches, zur kaiserin – und zur einzigen frau, die im alten china jemals offiziell herrscherin war. das buch erzählt eine geschichte von vor mehr als tausend jahren. gleichzeitig werden die strategien aus alten zeiten so ins heutige leben übertragen, dass sie auch für kaiserliche frauen der gegenwart durchaus hilfreich und von großer bedeutung sein können.

dieses buch fasziniert mich. es gibt mir – immer wieder aufs neue! - kraft und halt in meinem kleinen universum, wo das leben einer freien radikalen bisweilen richtig doof und mühsam ist. ganz wunderbar unterstützend finde ich die strategischen sätze der kaiserin, die jedem kapitel hintenangestellt sind. schlichte weisheiten im grunde – die im heutigen alltag leider allzu oft tief verschüttet sind.

es gibt eine wunderbare webseite zu dem buch und allem, was damit zusammenhängt - zinnoberfluss, auf der die kaiserliche leserin zum beispiel täglich mit einem neuen 'kaiserinnenspruch' begrüßt wird.

heute steht da „die kaiserin beherrscht ihr eigenes reich“. genau. ganz egal, wie groß oder wie klein das auch sein mag. was sonst?!

ich wünsche euch für heute und immer wieder aufs neue ein kaiserliches geburtstagsfest! ganz egal, wessen geburtstag ihr heute feiert. vergesst nicht, dafür zu sorgen, dass es euch gut geht, denn nur dann kann frau sich auch um andere kümmern - und die haben dann auch wirklich was davon.


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Montag, 21. Dezember 2009

wintersonnenwende: mach' das licht an!

die kalten, dunklen monate des jahres sind immer wieder eine herausforderung für mich. seelisch. körperlich auch. die witterung macht mir schwer zu schaffen, der lichtmangel ebenso. schon seit vielen jahren ist deswegen die wintersonnenwende mein persönlicher alleroberwichtigster feiertag im jahr, meine allerheiligste heilige nacht. das ist heute. um 18:47 uhr, um genau zu sein. die lichter dürfen nicht ausgehen!




vor allem freue ich mir ein loch in den bauch, dass ab sofort die tage nicht mehr kürzer werden. auch wenn sie jetzt noch nicht sofort spürbar länger sind, sondern erst nach dem sogenannten dreikönigstag am 6. januar – so ist doch schon allein das wissen um diese tatsache für mich so dermaßen beruhigend und heilsam, dass mir mit sofortiger wirkung leichter wird ums herz: ich habe durchgehalten, ich habe es wieder einmal geschafft, ich lebe noch! am ende der dunkelheit ist licht in sicht!

in anderen, in älteren kulturen gab und gibt es viele mythen und bräuche um diesen kürzesten tag und die längste nacht des jahres. je weiter eine nach norden geht, je weniger das licht wird, um so wichtiger werden die feiern. es gibt ein großes feuer, man feiert die wiedergeburt des lichts, die rückkehr der sonne. das julfest in skandinavischen ländern zum beispiel, das war ursprünglich so eine uralte wintersonnenwendfeier. das lichterfest der heiligen lucia ebenso.

ab jetzt geht es wieder aufwärts. mach' das licht an!

genau das tue ich dann auch heute: ich mache alle lichter an in der wohnung, ich stelle kerzen auf, so viel meine schubladen nur hergeben und wo immer ich einen platz finde. es blitzert und leuchtet, schimmert und wärmt. mein herz, das hüpft!

weihnachten interessiert mich nicht. ich brauche auch keine geschenke. ich bin keine getaufte christin. wenn ich eine wäre, hätte ich die allergrößten schwierigkeiten, an diesen seltsamen lieblosen strengen strafenden vatergott zu glauben, der seinen sohn durch die vergewaltigung einer jungfrau gezeugt und auch sonst eine menge verbockt hat. dem herrn jesus wurde der geburtstag übrigens erst nachträglich auf den 25. dezember gelegt und mit schokkelade verbrämt, um den 'bösen heidis' den abschied von ihren alten wintersonnenwendparties zu versüßen.

seit damals war es dann auch vorbei mit dem wunderbaren alten brauch von „weib, wein & gesang“. das waren der fraulichen dreifaltigkeit, der großen mutter erde, der sonnengöttin gewidmete heitere feiern, bei denen die frauen meines urzeitlichen weiberclans – damals noch gesellschaftlich hoch angesehen - es sich gut gehen ließen miteinander.

das waren wunderbare, laute, unverschämt schamlose freudenfeste. mir ist fast so, als wäre ich selbst dabei gewesen. jedenfalls hatten die damen einen heidenspaß dabei.

irgendwann kamen die christenmänner und taten so, als ob weinweibundgesang ihre ureigene erfindung sei „pah! wo kommen wir denn da hin, wenn wir den frauen das unkontrollierte gemeinsame fröhlichsein erlauben?!“ so tönten die patriarchen, und plötzlich gehörte das feiern nicht mehr den frauen, sondern den männern, und die frauen durften nur noch vorher kochen und backen und nachher den dreck wegputzen, während die kerle auf ihren sofas immer dicker wurden.

die männer machten sich die frauen und die fässer untertan. herausgekommen ist dabei – wie wir alle wissen – jede menge „bier, mann & gebrüll“. aber wer will das schon? deswegen haben die männer weiterhin das schöne alte weiberwort benutzt, um ihre eigene grobheit zu kaschieren. ich finde, es wird höchste zeit, dass wir frauen uns dieses schöne, lebensfrohe ritual zurückholen, den männern das ihre lassen - und es dann aber auch so nennen.

so weit ein kurzer exkurs in die geschichte meiner vormütter. der ist übrigens nicht wissenschaftlich belegt. ich bin keine wissenschaftlerin. ich bin geschichtenerzählerin. trotzdem weiß ich sehr genau, wovon ich schreibe. passt bloß auf!

jedes jahr aufs neue frage ich mich, ob es sein kann, dass ich an einer bislang unerforschten krankheit leide: der kälte-allergie. sobald die temperaturen konstant unter 20 °C sinken, geht es mir nicht mehr richtig gut. die meiste zeit habe ich dann entzündete nebenhöhlen, entweder eine triefnase oder komplett ausgetrocknete schleimhäute, dazu juckende rote verquollene augen, verspannte schultern, einen hartnäckig harten nackenbereich mit einhergehenden kopfschmerzen, was wiederum den tinnitus verstärkt .... kurz: „dann hann isch esu richtisch dat ärm' dier!“ und wenn sonst schon niemand mitleid hat, muss ich auch das noch selber tun!

wie auch immer, leider leide leider leide! keine krankenkasse der welt wollte meine kälteallergie bislang als ernst zu nehmendes gebrechen anerkennen. man weigert sich konsequent, mir regelmäßig das winterhalbjahr zur kur in den tropen zu finanzieren. dabei wäre ich gar nicht teuer und auch schon mit den subtropen zufrieden! vielleicht wäre es sogar .... ähem .... „kostengünstiger“ (dooofes krankenkassenpolitikerwort) als hier zu bleiben? ich könnte mich dort ja auch durchaus nützlich machen.

nun, genug der aussichtslosen kämpfe! heute ist wintersonnenwende, draußen ist dunkel und eisig glatt, hier drinnen ist warmlicht und auch in meinem herzen fühlt es sich diesmal sehr viel heller an als in den jahren zuvor.

euch allen wünsche ich eine ebenso sanfte, heitere winterwende - ganz egal, wie ihr eure feier nennt, an wen oder was ihr glaubt, mit wem ihr seid oder auf welches datum ihr sie legt: lasst es licht und liebe sein. das ist alles.


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Mittwoch, 16. Dezember 2009

wunder no. 2: rücke vor auf los

.... und ziehe monatlich deutsche euro 1000 ein!

es wird sogar ein bißchen mehr sein als das, auch netto noch. die stelle von neulich – die nach dem fiesen bewerbungsgespräch: ich habe sie doch noch gekriegt! die erste wahl hat etwas besseres gefunden und wieder abgesagt. ganz kurzfristig rief es mich an, das personalbüro aus der hochschule meines vertrauens: ob ich die sekretariatsstelle noch machen wolle. ich habe mir fünf tage bedenkzeit erbeten, mit gefühlten dreiundneunzig menschen lang und ausgiebig darüber gesprochen und diskutiert und therapiert und mich dann dafür entschieden.




nun fasse ich es noch gar nicht: vor mir auf dem arbeitstisch in meinem büro für besondere maßnahmen liegt ein unterschriebener arbeitsvertrag: 85 % teilzeit. befristet für knappe fünf monate, beginnend mit dem ersten januar 2010. tausenderlei formulare und erklärungen und belehrungen wollen noch ausgefüllt und unterschrieben und wieder zurückgegeben, diverse atteste und bescheinungen eingeholt und abgegeben sein.

ich habe es noch gar nicht alles genau durchgelesen. aber ich glaube, irgendwo muss ich auch bestätigen, dass ich keine schläferin bin.

so kompliziert wie diesmal war es für mich noch nie, eine arbeit zu beginnen! meistens waren die menschen froh, wenn ich für sie arbeiten wollte, und ich habe nach einer kurzen besprechung einfach irgendwie angefangen und irgendwann ein honorar gekriegt. verträge gab es nur selten. der letzte vertrag, den ich unterschreiben durfte, war der rahmenvertrag beim öffentlich rechtlichen rundfunk.

der öffentlich rechtliche rahmen besagte, dass ich bereit war, mich unbegrenzt totzuarbeiten, ohne daraus jemals irgendeinen rechtsanspruch auf eine feste anstellung ableiten zu können. andererseits war der arbeitgeber nicht verpflichtet, mir aufträge zu erteilen. top & go! ich konnte also nie im voraus wissen, ob die honorare reichen würden für die miete am monatsende. es hing ja auch noch davon ab, ob die redaktionsassistentin alles korrekt und rechtzeitig abrechnete. ich erinnere mich an viele viele male, wo ich meinen netten berliner vermieter um einen aufschub bat. er zeigte jedes mal verständnis. dennoch war mir das jedes mal auch unendlich peinlich.

das wird jetzt anders, und diese aussicht erscheint mir wie die reinste erholung! ich darf genau 33,58 stunden in der woche arbeiten. diese zeit wird mir bezahlt, egal ob zu tun ist oder nicht. wenn weniger zu tun ist, kann ich im büro sitzen bleiben und gute laune verbreiten. wenn länger zu tun ist, kriege ich dafür freie zeit an anderer stelle.

überhaupt das allerbeste: geregelte arbeitszeiten! keine späten überstunden, keine nachtschichten, keine wochenenddienste. ich bin entzückt! das bedeutet auch: ich habe geregelte freizeit! das ist echte wertvolle freie zeit dann! denn: wenn eine weniger freie zeit hat, dann ist sie auch mehr wert.

etwas vergleichbares hatte ich zuletzt anfang der neunziger jahre. damals war ich für ein paar monate als bürokraft in einer zeitarbeitsfirma angestellt. die haben mich auf jobs geschickt von der schreibstubenmieze bei der bank meines misstrauens bis hin zur chefsekretärin im mittelstand. der mittelstandschef hätte mich damals gerne behalten. das ging natürlich nicht, denn ich musste doch erst noch rundfunkredakteurin werden und den dalai lama interviewen.

jetzt bin ich als journalistin endgültig gescheitert und kehre zur sekretärin zurück. daher trete ich die stelle mit sehr gemischten gefühlen an, denn es ist für mich auch ein - zumindest zweitweilig empfundener - gesellschaftlicher, ein sozialer abstieg damit verbunden. nicht, dass ich jemals das gefühl gehabt hätte, oben gewesen zu sein! ich doch nicht. und doch ….

der tarif für den öffentlichen dienst ist so mager, dass ich weiterhin beim hartzamt aufstocken muss, um auf mein existenzminimum zu kommen. das werde ich dann auch tun. obwohl es mir sehr schwer fallen wird, den gepflegten damen im personalamt die entsprechenden vordrucke zum ausfüllen zu geben. wer in diesem land will, worauf er einen gesetzlichen anspruch hat, muss sich was schämen und demütig katzbuckeln. ich werd's überleben und gegebenenfalls darüber berichten.

mein traumjob ist das also leider nicht, was da nun auf mich zukommt. trotzdem freue ich mich natürlich. dieser arbeitsvertrag wirkt besser als jedes pharmazeutische antidrepessivum. nach neun langen jahren ohne versicherungspflichtige beschäftigung (vom minimum für die künstlersozialkasse einmal abgesehen) werde ich wieder ein fast vollwertiges mitglied der bürgerlichen gesellschaft sein: zu 85 prozent, um genau zu sein. yeah! hosianna! zündet die lichter an!

meine vielen ehrenämter, die ich mir in all den jahren als daseinsberechtigung zugelegt habe, werde ich dann peu á abgeben und zurückfahren. die kostenlosen übersetzungen für das kinderhilfswerk, stapelweise: canceln! ehrenamtliche seminare in projektmanagement für nen appel ohne ei: canceln! die geschäftsführung eines gemeinnützigen vereins: minimieren! keine vorträge mehr ohne honorar. schluss mit der sittenwidrigen selbstausbeutung!

bloß meine abendkurse an der volkshochschule zweimal im jahr, die werde ich weiter machen. denn die sind zwar auch schlecht bezahlt, aber energetisch das reinste honigbonbon für mein herz.

ach ja, das büro für besondere maßnahmen bleibt natürlich geöffnet. mo jour wird nur zeitweilig die perspektive wechseln und über andere aussichten berichten.

gefeiert haben wir gestern abend übrigens auch schon, die teure treue freundin und ich: mit rosenblütenbiozisch. das kann ich sehr empfehlen!


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Donnerstag, 10. Dezember 2009

in memoriam - katzengeschichte no. 3

mafia cioccolata kam ende juli 1991 im begehbaren kleiderschrank meiner berliner altbauwohnung in berlin neukölln zur welt. sie war das einzige mädchen im dreierwurf. die anderen beiden waren rote tigerkater – ganz der vater.

der rote kater peter aus dem haus nebenan war damals der einzige zeugungsfähige seiner art - in der gesamten nachbarschaft im sozialen brennpunkt am reuterplatz. nicht, dass er oder sein besitzer jemals alimente gezahlt hätten. aber die ähnlichkeit war unübersehbar. ein jahr später war er nicht nur mafias vater, sondern auch ihr liebhaber und vater ihrer fünf kinder.

eigentlich hatte ich das kätzchen gar nicht behalten wollen. wie die anderen beiden war sie versprochen und sollte im alter von drei monaten abgeholt werden. aber der neue besitzer kam nicht. sie blieb übrig. bis dahin hatte ich sie schon so lieb gewonnen, dass ich sie niemals wieder hergeben wollte. außerdem waren sie ein superteam, sie und ihre mutter mii-zeh maier. gemeinsam haben die beiden sogar dicke doofe stadttauben erlegt.




mafia cioccolata habe ich sie genannt, weil sie so frech war und so süß. nie zuvor habe ich eine katze erlebt, die so freundlich war, so zärtlich und so liebevoll. immer. egal was man mit ihr machte – und die so lautstark renitent werden konnte, wenn sie ihren willen nicht gleich bekam.

mafia hätte man am schwanz ziehen können – sie hätte trotzdem noch geschnurrt. aber wehe, ihr futter wurde nicht pünktlich um dreiviertel sechs serviert! dann konnte sie so vorwurfsvoll quäken, als hätte sie drei wochen lang nix zu fressen gekriegt.

überhaupt ihre stimme. die war eigentlich schrecklich. geradezu penetrant, aber unverkennbar! hätte ich gewusst, dass sie die ein katzenleben lang behält, dann hätte ich sie nicht mafia getauft, sondern sirene.

mafia cioccolata war eindeutig die häuslichere von meinen beiden katztieren. es war ganz auffällig, dass sie – im gegensatz zu ihrer mutter – abends regelmäßig nach hause kam und selten eine nacht draußen verbrachte. wenn doch, dann war sie irgendwo eingesperrt.

zum beispiel im kohlenkeller. im kohlenkeller waren die einzelnen verschläge mit groben latten abgetrennt, die türen wacklig gezimmert. es gab viel luft oben und unten. mafia sprang aus dem stand auf die oberen türkanten und auf der anderen seite wieder runter. wenn sie einmal über eine türe drüber war, konnte sie sich dahinter von abteil zu abteil bewegen, irgendwo gab es immer eine lücke.

nur einen keller gab es wohl, da kam sie zwar irgendwie von hinten rein, aber nicht wieder raus. das dumme war, dass ich für diesen keller keinen schlüssel hatte. ich hörte mafia dann irgendwo kläglich maunzen, konnte sie aber nicht befreien.

es hat ziemlich lange gedauert, bis ich herausfand, dass ich von der äußeren hauswand aus das kleine kellerlukengitter ein stück wegbiegen und sie herauswitschen lassen konnte. zum glück hat von den anderen hausbewohnerInnen nie jemand gepetzt, wer für das verbogene kellerlukengitter verantwortlich war.

mafia kletterte maschendrahtzäune hoch wie ein äffchen: zweieinhalb meter in nullkommanix! dann balancierte sie oben auf dem schmalen zaunpfosten und hops! stand sie im nachbarhof.

mafia wußte immer ganz genau, was sie wollte. wenn sie zum beispiel aus dem treppenhaus in den hof hinaus wollte, stand sie so lange innen an der hoftüre, bis jemand vorbeikam, den sie klagend anmaunzte, bis ihr gefälligst die türe geöffnet wurde. wenn es ihr zu lange dauerte, bevor jemand kam, dann rannte sie die treppe wieder hoch und schaute nach, ob im ersten stock das fenster zum hof offen stand. wenn ja, sprang sie da raus. aus dem ersten stock. weil sie so unbedingt auf den hof wollte.

das habe ich mehr als einmal erlebt. einmal stand ich mit der nachbarin plaudernd bei den fahrrädern. plötzlich macht es „plopp“. da stand meine katze mitten im hof, bei geschlossener hoftüre - aber geöffnetem treppenhausfenster eine etage höher. sie war wie vom himmel gefallen und maunzte mich vorwurfsvoll an, wie ich nur dazu käme, sie so lange warten zu lassen!

mafia hat es immer wieder geschafft, mich zu verblüffen mit ihrem kätzischen wagemut und ihrem liebenswerten eigensinn.

genau wie ihre mutter war auch sie oft unterwegs in den schrebergärten, die sich an den zweiten hinterhof und den kirchhof und den kindergartenspielplatz mit der großen wiese anschlossen. wenn ich sie abends vermisste, umrundete ich das große areal mit lauten lockrufen.

während mii-zeh maier sich dann regelmäßig taub stellte und manchmal wochenlang verschollen blieb, kam mafia meist angetrabt aus der hintersten ecke und quer über die wiese mit lautem „maumaumau“, sobald sie meine stimme hörte.

dann kruschtelte sie so lange „maumaumau“ am zaun entlang durch büsche und gestrüpp, bis sie einen weg zu mir nach draußen fand. oder sie marschierte den maschendrahtzaun hoch und ich konnte sie kopfüber vom pfosten herab in empfang nehmen.

auf dem rückweg balancierte sie auf meiner rechten schulter sitzend um den häuserblock herum. oder sie lief vor und neben und hinter mir her, bis wir wieder zu hause waren. von ihrem schulterthron herab fauchte sie jeden kampfhund in die flucht. siegessicher. so war sie: ganz löwe!

fast zwei jahrzehnte lang hat sie mich begleitet. heute vor neun wochen ist sie gestorben. ich vermisse sie sehr.

immer noch erscheint mir die wohnung ohne katze doppelt so groß wie vorher, entsetzlich leer und sehr sehr kalt – ganz egal, wie hoch ich die heizung dreh'.


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Sonntag, 6. Dezember 2009

das leben tanzen II

tanzen und singen sind nah beieinander, oft. das wundert jetzt niemanden. denn tanzen geht nur mit musik, und singen ist musik. der umkehrschluss aber ist nicht erlaubt, denn musik und damit auch das singen sind durchaus möglich, ohne zu tanzen. es macht mir nur nicht so viel spaß!

in vielen kulturen liegen die wurzeln des tanzes in heiligen, in rituellen handlungen. tänze waren und sind bewegte ganzkörpergebete. tanzen ist etwas ganz archaisches, es verbindet himmel und erde, ist kommunikation zwischen menschen und göttInnen.




ich denke an die thailändischen tempeltänzerinnen unter ihrem schwergoldenen kopfschmuck, mit den langen konischen kappen auf den fingerspitzen.

ich denke auch an klassischen indischen tanz, der den mythen nach älter ist als die erde selbst, denn schöpfergott shiva soll die erde im schweiße seines angesichts tanzend erschaffen haben, stück für stück!

welch ein unterschied zu den drei monotheistischen religionen, wo ein unrasierter alter mann schlecht gelaunt in seinen himmelsthronsessel pupste und die erde mal eben kommandierend aus dem ärmel schüttelte!

im alten japanischen glauben, dem shintoismus, gibt es sogar eine göttin des tanzes. neben dem tanz ist sie zuständig für lachen, für fröhlichkeit, für die morgenröte und für die fruchtbarkeit. kurz gesagt: für die wirklich wichtigen dinge im leben einer frau:

sie entzündet ein feuer, sie tanzt auf dem schallbrett: schamlos, schlotterbusig und laut lachend. ihr name ist ame-no-uzume. übersetzt bedeutet das in etwa „die wirbelnde himmelsfrau“, die ausgelassen in ihrer sinnlichkeit schwelgt. sie bricht tabus, sie schert sich einen dreck um die meinung anderer, sie ist die beste freundin bei depressionen und fachfrau für besondere maßnahmen!

ihre griechische schwester heißt baubo. genau, das ist die dicke mit dem lachen von ganz tief unten und dem untrüglichen bauchgefühl. das versöhnt mich ein bißchen mit meinem matronenspeck: womit soll eine frau denn tanzen? wie kann ich ein untrügliches bauchgefühl entwickeln, wenn ich keinen bauch habe?!

mein bauch ist schließlich meine mitte - hara. genau so, wie die gebärmutter das organ der fraulichen mitte ist – symmetrisch und nur einmal vorhanden. in japan heißt unsere mitte übrigens „kinderpalast“; das nur nebenbei.

man könnte jetzt meinen, ich tanze jeden tag, seitdem ich es für mich wieder entdeckt habe. das ist auch so. fast.

allerdings tanze ich nicht den flamenco. da bin ich in meinem kleinen möchtegerntänzerinsein-leben sehr weit entfernt davon, dass mein körper die komplizierten rhythmen und minutiösen bewegungen alleine und ohne die tragende energie einer gruppe aus sich heraus produzieren könnte.

außerdem wohne ich auf teurem teppichboden. flamenco auf socken – das funktioniert einfach nicht! ich bräuchte dafür einen umgedrehten waschbottich, wie ame-no-uzume! aber das wage ich nicht, in diesem miezhaus den vermieterleuten auf dem kopf herum zu tackern mit dem taconeo, dem genagelten absatz meiner flamencoschuhe.

im gegensatz zum klassischen ballett-tanz europas, bei dem alles in die lüfte strebt und schrecklich instabil ist, sind die alten, archaischen tänze zu ehren der göttInnen sehr erdverbunden: sie geben boden unter den füßen, sie machen frauen stark. der flamenco ist so, auch die indischen tänze.

eine ähnlich archaische, erdige tanzform, die ich erst kürzlich für mich entdeckt habe, ist der hula. aus hawaii. die silben „hu“ und „la“ bedeuten „energie“ und „sonne“. das wärmt mich, das macht glücklich! die für hawaii zuständige göttin des tanzes heißt laka. ihre weiteren ressorts sind musik und sonnenschein, liebe und fruchtbarkeit. was sonst?!

hula, das sind sanfte schwingende tanzschritte. barfuß. ganz schlicht. jede geste ist von bedeutung, jede bewegung der hände eine vokabel: die ureinwohner polynesiens kannten keine schrift. wenn sie sich geschichten erzählten, dann tanzend. das tun sie bis heute. auch, wenn sie inzwischen schreiben können.

den hula, den tanze ich derzeit täglich. fast. ich erzähle mir geschichten von meiner insel im sonnenschein, von palmen im wind und von der liebe. einfach so. für mich. das erdet mich. mein bis dato ungeliebter entenarsch erlaubt mir dabei ausladend fröhliche hüftschwünge, von denen dünne frauen nur träumen können.

nur an der stelle, wenn ich tanzend vom meer erzähle, das ich soo sehr liebe, dann kullern regelmäßig tränen. weil ich das meer soo sehr liebe – und weil ich so lange nicht dort war. soo lange nicht.


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Montag, 30. November 2009

das leben tanzen

ich wollte immer soo gerne tänzerin werden! oder wenigstens kunstturnerin. beides ging nicht. letzteres ging nicht, weil ich dafür zu lang bin, zu schwer - und mein schlimmes hohlkreuz dem seit kinderzeiten im wege war. „du hast einen entenarsch“ - höre ich es heute noch zischeln. im schulsport habe ich mich immer geschämt für mein körperliches unbewusstsein und dafür „schlechte“ noten bekommen.



als teenager habe ich es mit dem turnen trotzdem noch einmal versucht: trampolin springen sollte es sein, das fand ich schick! der große bruder meiner besten freundin war der star im verein und mein schwarm. ich kam nicht weit. weder bei meinem schwarm noch mit dem sport: nach ungefähr einem halben jahr hatte ich einen unfall. ich verlor mich im falschen schwung, stürzte ab, fiel auf den kopf, verschob mir einen halswirbel.

tänzerin sein, das war nicht einfacher. nicht nur das häßliche graue entenärschlein störte damals das auge der familiären betrachterInnen, wenn ich gewandet in hundert tüllige hüllen vor dem spiegel im flur mein eigener schwan war. der vater feixte und ignorierte mich geflissentlich. die mutter fand es bedenklich, dass ich so lange vor dem spiegel stand. „kind, du bist zu eitel! - haach wat biste wieder schön! - ja hammer denn schon karneval?“ die schwester triumphierte spöttisch, weil ich das missfallen der erziehungsberechtigten provoziert hatte.

mit fünfzehn dann der tanzschulalptraum, allein gelassen mit taktlosen durchschnittspickelträgern. das hatte hand und fuß, das fanden die eltern gut. trotz fortgeschrittenenkurs ist mir vom normierten standardtanz nur das walzerwogen im körper geblieben. ich lernte fürs leben: auf tanzpartner ist kein verlass, sie lassen mich sitzen.

ich vergaß das tanzen für eine weile. das balzgehopse in der disco zählte nicht als tanz, das war 'nix richtiges', auch wenn es spaß machte.

erst jahre später kam ich wieder zum tanzen. mitte der achtziger, studentin war ich in berlin – mein leben ein einziges stakkato: step – tap dance! war jetzt meine große liebe. takkaditak! i was dancing in the rain und auf den bahnsteigen der u-bahn. immer auf der suche nach dem eigenen rhythmus. ich fand ihn nicht wirklich, tanzte mich aber mit viel fleiß und großem vergnügen bis auf die bühne des quasimodo.

ich war stolz und dankte ab: die alte verletzung im nacken machte große probleme. mein schwacher lendenwirbelbereich - das hohle kreuz - in der damals sehr schlanken taille wurde fast zur sollbruchstelle.

es hat zeiten gegeben in meinem leben, da hätte ich nicht gedacht, dass ich jemals wieder in tanzschuhen stehen würde. mein körper foppt mich bisweilen und trickst mich aus.

ich trank alkohol auch gegen den schmerz. das balzgehopse in der disco zählte noch immer nicht als tanz. das war 'nix richtiges'. ich genoss es trotzdem.

in japan war ich fasziniert von den auftritten der maiko und geisha, von nô und kabuki, den fröhlichen tempelfesten mit trommeln und tanz. ich blieb still und trank sake, meine füße konnten kein japanisch.

das balzgehopse in der disco ödete mich an. nicht, weil es 'nix richtiges' war, sondern weil ich meinen körper nicht mehr spürte. ich machte trotzdem weiter, auf der suche nach 'meinem' rhythmus.

mein beruf war es schließlich, der mich wieder auf die bühne brachte. ich moderierte ein internationales tanzfestival. nur wirbelnde füße um mich herum, rhythmen aus allen welten – ich machte die ansagen und wippte sehnsüchtig im takt. jahr für jahr stand ich daneben.

im herbst 2000 wagte ich dann endlich! wieder einen eigenen tanzversuch. der flamenco hatte mich in seinen bann gezogen. die stolzen frauen mit geradem blick, die nicht immer lächeln mussten und mit den füßen fest auftreten durften – ich war hingerissen und hatte gleichzeitig angst vor mir selbst.

es hat monate gedauert, bis ich einigermaßen gelassen vor dem großen spiegel mich bewegen und mir dabei zusehen konnte. so tief saßen die alten botschaften, so tief saß auch der schmerz!

der flamenco bietet mir so viele stile, dass es zu jeder lebenssituation den passenden rhythmus gibt. die heitere alegria, den erdigen tientos, den schmerz der seguiriya, die freche rumba gitana, die verzweifelte solea ....

der flamenco ist urlaub für mein herz und kur für die seele. ein paar jahre lang habe ich regelmäßig getanzt, finde in dieser bewegung zu mir selbst und komme zur ruhe, denn die konzentration auf all die verschiedenen bewegungen und rhythmen erlaubt meinem kopf nicht, an irgend etwas anderes zu denken. wenn ich tanze, dann bin ich genau da, wo ich bin, hier und jetzt: das ist MEIN wunder!

in den letzten jahren hatte ich nur noch selten gelegenheit, den weiten rock und die genagelten schuhe zu tragen: im existenzminimum ist tanzen nicht vorgesehen.

gestern und vorgestern habe ich nach fast einem jahre pause endlich wieder einmal an einem wochenend-workshop teilnehmen können: geschenkt von einer lieben, langjährigen freundin aus berlin. mit stolz im blick und demut im herzen hat mir das so unendlich viel freude gemacht und leben geschenkt, dass ein DANKE! gar nicht ausreicht, um all das auszudrücken, was ich empfinde. weil es um sooo viel mehr geht als um ein paar schnöde euro.

ich tanze das leben!


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Mittwoch, 25. November 2009

mein rosenrecht

ende november, ein sanfter wind aus dem süden bringt frühlingshafte temperaturen in mein weinbergtal: fast zwanzig grad. eine makellose kuppel von himmlischem blau da draußen, wenn ich aus dem bürofenster schau. so lange es etwas so schönes gibt, darf ich doch eigentlich nicht traurig sein?!



es hilft nichts! der selbst gekaufte blütenwunderbusch auf dem balkon heitert mich längst nicht mehr auf. meine eigenen durchhalteparolen öden mich an: ich stecke mitten in der depression.

die einsamkeit frisst mich auf, und ich muss mich besinnen auf diesen winzigen funken in mir drin, der bisher noch immer allen meinen lebenskatastrophen ein schnippchen geschlagen hat.

ich ziehe mich tief in mich zurück und köchel auf kleiner flamme. herbst in der seele. die hat umgeschaltet auf notstromaggregat, ist nur noch mit überleben beschäftigt. nur meiner würde zuliebe funktioniere ich nach außen so gut es geht. ich wasche mir das gesicht und parliere gepflegte höflichkeiten.

alles, alles! alles was jetzt heilen hilft, hat recht!

ich tendiere leider dazu, ein schlechtes gewissen zu kriegen, wenn ich nicht perfekt funktionieren kann. deswegen muss ich mich in jeder krise aufs neue selbst ganz energisch darauf hinweisen, dass es mein gutes menschenrecht ist, mich immer wieder in mich zurückzuziehen, die quellen meiner kraft zu besuchen und dann gestärkt wieder in die welt zurückzukehren.

pause!
wie die rosen da draußen, die ich so sehr liebe – die blühen ja auch nicht pausenlos!

gestern habe ich die töpfe aneinandergeschoben und reiser dazwischengesteckt, damit sie nicht so frieren im zu erwartenden winter.

neulich mal, da fragte mich jemand
"wenn du eine blume wärest ..... welche?!"

da habe ich gar nicht lange überlegt,
eine rose bin auch ich, ohne zweifel!

keine passionsblume mit schlanken ranken,
die tagtäglich in mich beängstigender regelmäßigkeit
immer dieselben diffizil-perfekten blütenwunderwerke
verprasst und dabei lang und länger wird.

ich bin eine rose
und habe mein rosenrecht auf lange pausen,
in denen ich einfach nur ein stacheliger stock bin
mit nix dran
was zu bewundern wäre

unter 20 grad mach' ich sowieso nix
rühr' mich bloß nicht an!

dann brauche ich meine zeit
und pflege und geduld
winterschutz und läusepflaster

bis es wieder wärmer wird
und dann treibe ich aus, aber hallo!

blätter groß und grün und glänzend
zweige wehrhaft mit neuen stacheln, schick!
eine blüte nach der anderen
mit duft ohnegleichen
ein sonnenfeuerwerk!

wehe, es regnet kühle winde.
dann bin ich indigniert und kriege den rost.

trotzdem respektieren mich alle
so, wie ich bin.
ich kriege dünger wenn ich brauche
und keiner käme im winter auf die idee
ungeduldig an mir rumzuzerren

bloß weil ich nicht immer grün bin
wie der stinkende buxbaum nebenan.

mit rosenrecht
und guter pflege
blühe ich bis zum frost
wenn ich will.
irgendwie stachelig bin ich wohl immer.

es bleibt eine große unterschwellige sehnsucht
nach südlicher zuwendung.

ich bin eine frau
ich bin ein zyklisches wesen.

wie die rosen, wie der mond:
mal ganz, mal halb, mal gar nicht da.

im grunde geht es mir gut
solange ich mich selbst respektiere
so wie ich bin!


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Donnerstag, 19. November 2009

wortgeplänkel I - zeit

„eine zeitlang“, diesen ausdruck benutzte ich neulich einmal in einem anderen zusammenhang.

„täglich eine zeitlang“, so schrieb ich, „tue ich dieses oder jenes“ – und dann habe ich den begriff auch noch gesteigert bzw. geradezu verdoppelt, indem ich behauptete, ich täte dieses oder jenes manchmal sogar „zwei zeiten lang“.

gerade so, als ob ich wüßte, wie lang eine zeit sei, oder gar so als ob ich die alleingültige formel erfunden hätte, was die zeit ist.



du dummchen, wird jetzt jemand dazwischenrufen, das brauchst du gar nicht erst erfinden, das hat doch längst jemand anders erledigt, samt nobelpreis dafür gekriegt! seither messen wir die zeit in sekunden, minuten, stunden, tagen, wochen, monaten und jahren. und damit man immer weiß, wie spät es ist, hat der mensch eine uhr.

aha. natürlich habe auch ich eine uhr – mehrere sogar. und meistens weiß auch ich ziemlich genau, wie spät es ist. denn nur noch ganz wenige uhren gehen nach der wiener wasserleitung (meine blaue badezimmeruhr, zum beispiel).

uhren gehen neuerdings (um zeitgenau zu sein, seit 1978) nach der atomuhr. die deutsche atomzeit wird hergestellt vom physikalisch-technischen-bundesamt in braunschweig. damit die dort im ptb keine unzeiten herstellen, gibt es ein bundesdeutsches zeitgesetz.

das zeitgesetz regelt die gesetzliche zeit. es macht die zeit allerdings nicht selbst, es verwaltet sie bloß – auf dass der amtsschimmel immer pünktlich dahergeritten komme.

damit die leute sich nicht ständig verpassen - egal ob sie gesetzliches mit ihrer zeit tun oder nicht - wird die gesetzliche zeit mehr oder weniger regelmäßig und zeitgleich in den medien verkündet.

aber nicht in allen ganz genau, sondern bloß im fernsehen und im radio. ausgerechnet in dem medium aber, das nach der zeit benannt wurde - nämlich der zeitung - wird die zeit nicht ganz genau verkündet, sondern eher vage. am ungenauesten ist die geschriebene zeit, also die zeitangabe, die man aus zeit-schriften erfährt.

früher hatten wir noch die zeitansage im telefon, erinnert ihr euch? die gibt es heute auch noch, aber nicht mehr unter der nummer 119. als kind war ich davon völlig fasziniert und habe der netten dame vom amt mit ihrem piep sehr oft und sehr lange zugehört.

aber selbst, wenn die heutige computerstimme mit sinuston mir noch so genau sagen kann, wie spät es ist – damit weiß ich doch immer noch nicht, wie lang 'eine zeit lang' ist.

ist eine zeit so lang wie das ticken des weckers braucht, um die zeit in scheiben zu hacken?

oder ist eine zeit so lang wie der kuckuck in der nachbarswohnung benötigt, um sich dröhnend aus seinem uhrenkästchen herauszukatapultieren und mir mit metallischem ruf meinen mittagschlaf zu zerstören?

woher weiß ich, wenn meine freundin erzählt, sie sei eine zeit lang verheiratet gewesen, wie lang ihre zeit war?

ist ihre verheiratete zeit genau so lang wie meine, wenn ich sage 'ich bin schon eine ganze zeit lang single'?

ist 'eine ganze zeit lang' mehr als 'eine (einfache) zeit lang'? es hört und fühlt sich irgendwie so an – obwohl doch eins schon ein ganzes ist und kein kaputtes bruchstück …. oder irre ich mich?

spannend finde ich auch, dass zeit als kostbar gilt, obwohl sie doch von niemandem hergestellt wird – man sie also eigentlich auch nicht verkaufen kann.

die menschen verkaufen ihre zeit aber doch, gegen jede logik! zeit ist geld, sagen sie dann, werden ganz hektisch und haben überhaupt gar keine zeit mehr.

seltsam ist auch, dass die zeit verschiedener menschen unterschiedlich viel wert ist. frauenzeit zum beispiel ist weniger wertvoll als männerzeit. durchschnittlich gesehen. das weiß man nicht erst, seitdem die neuesten statistiken mal wieder beweisen, dass frauen nicht nur in unserem land ein fünftel bis ein drittel weniger geld für ihre arbeit erhalten als männer.

aber wieso? jeder mensch hat täglich die gleichen vierundzwanzig stunden zeit, um sein leben zu leben und um alles zu tun, was gut und wichtig ist. frauen haben nicht mehr zeit als männer. warum sollen wir mehr lebenszeit investieren, um denselben lohn zu erhalten?

das verstehe ich nicht. noch weniger aber kann ich verstehen, dass nicht nur arbeitszeit mit geld bezahlt wird.

gerade heute erst las ich in unserem ländlichen jedewoche-kostenlosimbriefkasten-anzeigenkäseblatt eine stellenanzeige, in der ein/e „freizeitverkäufer/in“ gesucht wird.

ja wie jetzt? soll ich nicht nur meine arbeitszeit, sondern auch noch meine freizeit verkaufen? auch das noch? ist freizeit dann mehr wert als arbeitszeit oder weniger? wie lang ist überhaupt eine freizeit, wenn ich sie verkaufe?

wenn ich eine zeit lang meine freizeit verkaufe: was passiert mit der nicht verkauften arbeitszeit? und vergeht die zeit dann doppelt so schnell? schnell vergeht die zeit doch sowieso, egal ob ich sie verkaufe oder nicht!

denn während ich hier eine zeit lang über die zeit schrieb, ist es draußen schon dunkel geworden – und wie lang meine zeit lang ist, weiß ich immer noch nicht.


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Montag, 16. November 2009

unfug en gros & en détail II - sonnenstrahlenkinder

sonntags mache ich gern einen sonntagsspaziergang. wenn niemand mitgeht, laufe ich allein auf und ab, in den weinbergen hinterm haus. die reben sind längst abgeerntet. 




so ging ich also gestern in gedanken vor mich hin. auf sonnenstrahlen wartete ich allerdings vergeblich. mein gedankengang führte mich zurück ins jahr 2002, als ich hier noch ganz neu war: frisch vom tosenden kurfürstendamm hinein in ein badisches winzerdorf, wo es bis heute noch nicht einmal eine ampel gibt.

damals um mich herum duftender frühling und heiterer sonnenschein – und ich war sehr unsicher, wie das wohl werden würde, als trockene alkoholikerin mitten im wein zu leben.

da habe ich mir die geschichte mit den sonnenstrahlen ausgedacht, um den weinbeeren eine für mich neue bedeutung zu geben, ihnen quasi den alkohol zu entziehen.

diese geschichte fiel mir gestern wieder ein, als ich von den letzten noch übrigen weinbeeren naschte. die waren so süß, dass mir ganz warm wurde ums herz!

nun lest selbst, was es mit den sonnenstrahlen und den weinbeeren auf sich hat:
sonnenstrahlenkinder, von denen haben wir hier wahrlich genug. sie schlafen in den weinbeeren.

erst einmal gibt es die großen sonnenstrahlen, sozusagen die erwachsenen. die reichen von der sonne bis zur erde.

aber die sonnenstrahlenkinder, die sind noch viel viel kürzer und schaffen den weiten weg von der sonne bis zur erde nicht alleine.

deswegen benutzen sie die großen sonnenstrahlen wie eine rutschbahn: sie kullern und purzeln darauf wild durcheinander von der sonne zur erde.

am liebsten an warmen, wolkenlosen sonnentagen. dann sind die großen sonnenstrahlen schön warm und stabil und es kann nichts schief gehen.

den ganzen tag flirren und flimmern die kleinen sonennstrahlen dann auf der erde herum, lustig umeinander.

du hast sie bestimmt schon einmal miteinander spielen sehen – im sommer auf einer waldlichtung oder unter dem großen busch im garten oder wenn sie mit den schmetterlingen um die wette flattern ....

wenn die sonnenstrahlenkinder vom vielen spielen müde sind, dann machen sie ein mittagsschläfchen. dazu legen sie sich am liebsten eng zusammengekringelt in die weintrauben.

eigentlich sind immer bis zum abend alle sonnenstrahlenkinder wieder wach. sie können nämlich noch nicht alleine zur sonne zurück. dazu sind sie ja noch viel zu klein.

statt dessen setzen sie sich kurz vor sonnenuntergang auf die füße von den erwachsenen sonnenstrahlen. die erwachsenen sonnenstrahlen rollen sich dann von unten nach oben zusammen bis hoch zur sonne und nehmen so die kleinen sonnenstrahlen wieder mit zurück.

nur manchmal wird ein kleiner sonnenstrahl nicht rechtzeitig wieder wach und bleibt zusammengekringelt in der weintraube liegen bis nach sonnenuntergang. oder es kommt ein gewitter und die großen sonnenstrahlen müssen früher zurück als geplant.

dann verpassen die kleinen sonnenstrahlen den rückweg.

aber das macht ihnen gar nichts! denn sie wissen ja, dass die großen sonnenstrahlen und die anderen sonnenstrahlenkinder am nächsten tag wiederkommen. oder spätestens übermorgen!

also bleiben sie einfach weich und warm, wie sonnenstrahlenkinder nun mal sind, ganz zufrieden mit sich zusammengekringelt in ihren weintrauben liegen.

die weintrauben freuen sich über den lieben besuch und werden vor lauter glück ganz dick und rund.

und deswegen schmecken weintrauben so gut und so süß: weil die sonnenstrahlenkinder darin geschlafen haben!

die geschichte eignet sich bestens zum vorlesen, für große und kleine leute gleichermaßen. für die erwachsenen habe ich den letzten satz geändert. der hieß ursprünglich „weil es schlafende sonnenstrahlenkinder sind“. alle kinder fanden diese idee ganz wunderbar. vor allem, weil die sonnenstrahlenkinder dann im eigenen bauch weiterspielen, wenn sie wieder wach sind - das kribbelt so schön.

aber manch erwachseneR hatte wohl irgendwie kannibalische vorstellungen und ein großes problem damit, die weinbeeren samt innenliegenden sonnenstrahlenkindern zu vernaschen.

mir egal. macht's wie ihr wollt!


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Mittwoch, 11. November 2009

besondere maßnahmen VII – gehe zurück auf los

.... und ziehe nicht monatlich deutsche euro 1000 ein!

mit gut 1500 euro brutto dotiert war die sekretärinnen-stelle, auf die ich mich kürzlich beworben habe. öffentlicher dienst, 85 % teilzeit. zunächst befristet auf viereinhalb monate. nach abzug aller steuern, abgaben und sozialversicherungen wären davon rund zwei drittel übrig geblieben. kaum mehr als mein arbeitslosengeld, aber immerhin.



um es vorweg zu nehmen: ich habe die stelle nicht gekriegt. einmal mehr heißt es also für mich: ätschbätsch! vergeblich bemüht, umsonst gehofft – alles bleibt wie es ist. es ist nicht einmal der hauch der idee einer ahnung von besserung meiner derzeitig prekären lage in sicht.

ich war eingeladen! diese unerhörte ehre ist mir in den jahren seit meinem vierzigsten geburtstag nur ganz ganz selten widerfahren. das letzte persönliche bewerbungsgespräch liegt mehr als vierzehn monate zurück.

damals hatte ich sogar eine mündliche zusage für eine der drei neu zu besetzenden stellen erhalten. wochen später lag dann doch wieder nur der ungeliebte große umschlag mit nichtssagender standardabsage im briefkasten. haha – reingefallen! auf mündliche absprachen kann man sich doch heutzutage nicht mehr verlassen, du dummerchen!

diesmal waren außer mir nur zwei andere kandidatInnen eingeladen. die derzeitige stelleninhaberin ist eine bekannte von mir. sie wird zum jahresende die stadt verlassen, hatte mir den tipp gegeben, mich zu bewerben und mich sogar ihren vorgesetzten empfohlen – da hatte ich mir realistische chancen ausgerechnet.

in den schönsten farben hatte ich mir ausgemalt, wie schön das sein könnte, nach all den jahren wieder finanziell unabhängig zu sein und nicht mehr zu diesem blöden hartz-amt zu müssen. wenn zwar auch weiterhin sparsam, so doch selbst über mein geld entscheiden zu können!

auch wenn ich dort kaum mehr verdient hätte als mein arbeitslosengeld: abzüglich der dann fälligen fahrtkosten, GEZgebühren und höherer krankenkassenzuzahlung hätte ich sogar einiges weniger gehabt als jetzt. aber egal! ich will arbeiten! für geld!

im gespräch fand ich mich gut: angemessen souverän, nicht zu dick aufgetragen, meine hochbegabung nicht raushängen lassen. immer gut blickkontakt gehalten, auch mal gelacht, bei fangfragen weder patzig geworden noch aufmüpfig.

tja. ich war wohl gut – aber nicht gut genug.

fairerweise kam die telefonische absage noch am selben tag. man habe lange diskutiert und die entscheidung sei sehr schwer, dann aber doch auf die mitbewerberin gefallen: weil die mehr 'vom fach' sei.

aha. mal wieder so eine typisch deutsche absage: wer einen schein hat mit stempel drauf gilt als 'vom fach'. jahrzehntelange erfolgreiche erfahrung ohne schein mit stempel gilt nicht als 'vom fach'.

am telefon habe ich mich noch sehr zusammengerissen. diese eiskalte personalerblondine wollte ich auf keinen fall merken lassen, wie sehr ihre absage mich in einen abgrund der hoffnungslosigkeit stürzte. ich blieb höflich, korrekt und freundlich, bedankte mich sogar für den schnellen bescheid und die persönlichen worte.

nachdem ich das telefon abgestellt hatte, ging gar nix mehr. meine perspektive war futsch, meine façon auch und ich habe den nachmittag, den abend und die nacht durchgeheult. bin mit tränen im gesicht wach geworden und habe mir den frühstückskaffee versalzen.

soll ja ganz gut sein, wenn man gleich weinen kann, weil es den ganzen psychostressdreck rausspült aus körper und seele. bloß ist in meinem leben schon seit langem immer so dermaßen viel psychostress, dass ich mich innerhalb der letzen jahre nicht an einzigen tag erinnern kann, an dem ich nicht zumindest eine zeitlang heulend in der ecke gesessen wäre. oft waren es eher zwei zeiten lang oder mehr.

so viel augenantifaltencrème kann ich gar nicht benutzen, um diese tränensäcke jemals wieder auszubügeln. hartz4 macht häßlich!

im lauf des vormittags spürte ich, wie meine verzweifelte enttäuschung sich allmählich in wut verwandelte. wie konnten die sich das nur entgehen lassen?! diese einmalige chance?! mich hochqualifiziertes goldschatzstück zu einem solchen dumpinglohn?! pah! selber schuld!!

jetzt, aus etwa dreißig stunden abstand betrachtet, war dieses bewerbungsgespräch eines der fiesesten, die ich jemals erlebt habe.

habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich mich auf ein hochschul-sekretariat mit publikumsverkehr beworben habe? dass in der 'prüfungskommission' zwei lehrstuhlinhaberinnen, die personalerchefin und eine personalrätin saßen?

die vier haben es nicht einmal gemeinsam geschafft, mir auch nur ansatzweise mitzuteilen, welche aufgaben ich dort eigentlich zu erfüllen gehabt hätte. es gab nicht eine einzige frage, in der eindeutig nach für die zu besetzende stelle notwendigen qualifikationen gefragt wurde.

statt dessen spielten sie mit mir spekulatives stehgreiftheater:

„stellen Sie sich vor, Sie kommen an ihrem ersten arbeitstag hierher und niemand ist da. die ganze hoschschule ist leer. wie kommen Sie an die informationen, die Sie brauchen, um Ihre arbeit zu erledigen?“ wie bereits gesagt, man hatte mir weder mitgeteilt, was denn meine arbeit eigentlich sei – noch wie die aufgaben unter den insgesamt drei fakultätssekretärinnen aufgeteilt sind.

ich sagte nicht, dass ich wohl kaum ins gebäude reingekommen wäre, wenn nicht einmal der hausmeister da wäre. ich habe auch nicht gesagt, dass ich mich dann erst mal hinsetze und in meinem eigenen kalender nachschaue, ob ich mich vielleicht im datum geirrt haben könnte und aus versehen an einem sonntag gekommen bin. erst recht nicht habe ich gesagt, dass ich mir dann erst mal nen kaffee kochen, ne halbe stunde warte, ob noch jemand kommt und – wenn das nicht der fall sei, stinkesauer wieder heimgehen würde. unausgesprochen blieb auch, dass ich es für ausgesprochen unkollegial hielte, mich an meinem ersten arbeitstag ohne einarbeitung so dermaßen auflaufen zu lassen. für mich wäre das ein kündigungsgrund.

„was tun Sie, wenn einer der professoren Sie unangemessen laut und ungerecht vor anderen herunterputzt und niederbrüllt?“ - „wie gehen Sie damit um, wenn eine professorin merkt, dass Sie gerne texten und Ihnen immer öfter solche aufgaben überlässt? zusätzlich?“ - „was machen Sie, wenn dann auch die kollegin merkt, dass Sie das gut machen und neidisch wird, weil Sie bei den professoren so gut dastehen?“

solcherlei fragen ließen mich vermuten, dass es sich bei der ganzen abteilung in der tat um einen ziemlich unkollegialen haufen durchsetzungsunfähiger profilneurotiker und pädagogisch wertloser choleriker handelt. insgesamt hatte ich den eindruck, dass hier nicht eine sekretärin gesucht wurde, sondern eine konfliktmanagerin und mediatorin, die den kommunikationsstau gegen größte widerstände wieder in fluss bringen soll.

„.... und wenn die kollegin Ihnen dann auch noch textaufgaben zuschustert, weil Sie weiß, dass Sie das gut können und sie selbst macht es nicht so gerne?“ - „.... und wenn Sie so viel texten, was ja keine klassische sekretariatsaufgabe wäre – würden Sie dann nicht mehr geld haben wollen?!“ - ja wie jetzt?! ziehen die mir geld ab, wenn ich mal zwei stunden mit niederqualifiziertem fotokopieren zubringen muss?!

„.... es wird niemand mehr da sein, der Sie einarbeiten kann, wenn Sie im januar hier anfangen. wären Sie bereit, im monat vorher 'sich einzubringen' (ohne bezahlung versteht sich!) und sich das wichtigste zeigen zu lassen?“

ja. gegen jede überzeugung, dass einarbeitung zur arbeitszeit gehört: ich wäre dazu bereit gewesen, als diese frage im bewerbungsgespräch gestellt wurde. ich wollte die stelle. ich wollte arbeiten.

aber jetzt, nachdem ich mich noch einmal gut sortiert und alles revue habe passieren lassen, bin ich geradezu dankbar, dass ich diesen job in einer so staubig unkollegialen atmosphäre nicht werde machen müssen. das riecht doch geradezu nach kompetenzrangelei, respektloser unachtsamkeit, diffuser überforderung und mobbing schon im ansatz. typischer frauenjob eben. mit typisch niedrigem frauenlohn obendrein.

bei allem inneren aufruhr, übrigens, war ich nicht eine sekunde damit beschäftigt, darüber nachzudenken, ob ich diese blöde katastrophe in einer badewanne voll schampus ersäufen soll und mich gleich mit.

ich stelle also fest, dass ich über eine ganz erstaunliche resilienz verfüge. das macht mich nicht reich – aber stark. und es bereichert mein leben!


postscriptum am 17. dezember 2009:
die geschichte hat eine fortsetzung


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Mittwoch, 4. November 2009

matronenspeck

als kleines mädchen war ich ziemlich dünn und immer sehr blass. das hat den eltern nicht gefallen. sie wollten eine andere tochter. keine blasse dünne.



also schickten sie mich in ein kindermästheim. das war im sommer, bevor für mich die schule anfing.
ich war sechseinhalb jahre alt. ich wurde in den zug gesetzt - mit schild um den hals - und musste allein hinfahren. allein dort bleiben. lange sechs wochen lang. allein und krank wieder zurückfahren. ich hatte schreckliches heimweh die ganze zeit und ich weinte jede nacht.

ich war fest davon überzeugt, dass die eltern mich nicht mehr wollten. dass ich irgend etwas falsch gemacht hatte. was genau, das hatten sie mir nicht gesagt. aber es konnte nicht anders sein, als dass sie mich abstoßend fanden. warum sonst hätten sie mich so abgestoßen einen ganzen langen sommer lang?

im kinderquälheim war ich mit fünf anderen mädchen in einem zimmer eingepfercht. nachts war die türe abgeschlossen. es war uns verboten, aufs klo zu gehen. denn wir hätten uns ja dort mit den jungs aus dem anderen stockwerk treffen können. da waren die nonnen sehr streng. ich war sechs. ich wäre niemals alleine nachts durchs haus geirrt. schließlich hatte ich angst vor den großen jungs, und ich hätte alles getan, um ihnen nicht auch noch nachts begegnen zu müssen.

trotzdem war es schlimm, nachts eingeschlossen zu sein. in der mitte des zimmers stand ein pisspott mit henkel. für alle. wir plätscherten abwechselnd im dunkeln und schämten uns in grund und boden.

die schwarzen nonnen gaben sich alle mühe, mich innerhalb von sechs wochen von „blass und dünn“ upzudaten auf die version „prall und rosig“. dazu schaufelten sie mir von ihrem doofen nonneneintopf immer die größten portionen auf meinen teller. ich wurde gezwungen, genau so viel zu essen wie die vierzehnjährigen großen jungs auf der anderen seite der langen tischreihen.

ich flehte und bettelte um kleinere mengen. die küchennonnen waren unerbittlich. sechs wochen lang. ich kämpfte unter tränen mit meinen bauarbeiterportionen. ich schaffte es kaum. ich habe immer sehr lange gebraucht. so viel hunger hatte ich doch gar nicht. das passte doch alles gar nicht rein in meinen kleinen kinderbauch.

alle anderen kinder waren wütend auf mich, denn sie mussten immer auf mich warten. es gab keinen nachtisch, bevor nicht alle teller leergegessen waren. es durfte niemand aufstehen, bevor nicht auch noch der nachtisch verputzt war. ich habe immer am längsten gebraucht von allen. mit grießpudding kann man mich bis heute in die flucht schlagen.

auch die nonnen waren wütend auf mich, weil sie nicht mit dem abwasch anfangen konnten, bevor nicht alle kinder den saal verlassen hatten. ich brachte ihren großen plan durcheinander, weil ich zu langsam aß. ich war schuld.

einmal waren sie so wütend, dass sie mich mit meinem halbvollen teller in die küche zerrten. sie setzten mich zwischen berge von dreckigem ess- und kochgeschirr und befahlen mir, dort aufzuessen. die anderen kinder sollten einen ausflug machen. da konnte man nicht auf mich warten.

mir war schon übel von meiner großportion in dem speisesaal, wo immer ein ekliger mischgeruch von linoleumputzmittel und eintopfdünsten in der luft hing. der gestank der essensreste mit spüli gab mir vollends den rest, und ich übergab mich auf den küchenboden.

am ende meiner sogenannten kinderkur wurde ich krank: mit fieber wurde ich in den zug nach hause verfrachtet. allein. bleich wie die wand kam ich bei den eltern wieder an. die waren sauer auf mich, weil ich meinen schulanfang verpasste. in den windpockenwochen nahm ich allen nonnenmastspeck wieder ab.

ich glaube, damals hat es angefangen, dass ich nicht mehr normal essen konnte. ich aß entweder zu viel oder zu wenig. die mutter war nie ganz zufrieden mit mir. auch meine helle haut passte nicht in ihr bild vom „wunschkind“.

trotzdem war ich viele jahre lang ziemlich schlank. fraulich. normal. mit 18 war ich 176 zentimeter lang und wog 62 kilo. die mutter sagte ständig „paß auf dass du nicht zu dick wirst“. dünn durfte ich nicht sein. aber ein bißchen dickere haut auf den rippen passte auch nicht in ihr bild vom „wunschkind“, das zu sein sie bis heute nicht aufhört mir zu beteuern.

also passte ich auf, dass ich nicht zu dick wurde und aß eine weile so gut wie gar nichts mehr. ich wog noch 55 kilo und war sehr blass.

das nichtessen habe ich nicht länger als ein paar monate durchgehalten. danach nahm ich schnell wieder zu. mehr als vorher ging aber auf gar keinen fall. also spuckte ich wieder aus, was mir zu viel erschien.

ich schämte mich schrecklich. nun verschwendete ich auch noch lebensmittel, indem ich sie erst in mich hineinstopfte und mir kurz drauf den finger in den hals steckte. die mutter hat nichts gemerkt. angeblich. all die jahre nicht.

die bulimie habe ich fast zehn jahre lang betrieben. mal mehr, mal weniger. ich hielt mein gewicht unter 65 kilo. die mutter misstraute ihren argusaugen „kind, du bist doch nicht etwa dicker geworden?“

erst mit mitte dreißig nahm ich ein paar kilo zu. blieb aber immer noch weit unter dem, was in westeuropa als „normalgewicht“ bezeichnet wird.

mehr als drei jahrzehnte habe ich gegen meinen körper gekämpft und habe es doch nie allen recht machen können. irgendwann vor ein paar jahren habe ich dann einfach aufgehört, mich dünne zu machen und bin ge-wichtig geworden.

niemand, der mich jetzt sieht im matronenspeckmantel meiner wechseljahre, würde darunter ein so langjähriges schlankes unglück vermuten.

kein wespentaille mehr, statt dessen trage ich eine weiche hülle von nichtmehrraucherspeck durch die welt, vermischt mit medikamentennebenwirkungsspeck, stoffwechselveränderungsspeck, hartz4kummerspeck, keinerliebtmich-ichbraucheschokoladespeck und – ganz neu! - drei kilo katzentrauerspeck.

so ist das leben eben.


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Donnerstag, 29. Oktober 2009

die letzte rose im herbst

als ich vor mehr als sieben jahren in den süden zog, entdeckte ich den duft der rosen für mich.

schon seltsam, dass ich bis in meine lebensmitte dafür gebraucht habe. natürlich habe ich rosenduft auch vorher gemocht. aber niemals war er so wichtig für mich, dass ich ihn für immer um mich gewünscht hätte.

die rosen, die ich im blumenladen kaufte, die ich geschenkt bekam und die meine großstadtwohnung schmückten: sie ernährten mich allein optisch, berührten nur selten olfaktorisch meine seele.

zu meiner ersten wohnung auf dem land gehörte ein kleiner garten. keine frage – da musste eine rose her! ich brachte irgend eine mit aus dem baumarkt. ohne wissen und ohne den hauch einer ahnung, dass ich eine der schönsten und wertvollsten rosen überhaupt erwischt hatte, und dass diese der grundstock werden sollte für eine stachelige duftleidenschaft.


innerhalb weniger monate war meine baumarktrose meterhoch. schwer vom duft der blütenbüschel bogen sich die ranken. seither verduftet sie auf meinem schreibtisch, aromatisiert meinen tee und verwandelt mein schnödes badesalz in ein luxuriöses blütenblättermeer. jedes jahr aufs neue, von mitte mai bis weit in den herbst:

compassion heißt sie, das mitgefühl: kitschig rosa, manchmal mit gelbem schimmer oder irgendwie lachs – je nach wetter und dünger und alter ändert sie immer wieder einmal ihre farbe. der duft aber bleibt. daran erkenne ich sie mit geschlossenen augen.

zu meiner jetzigen wohnung gehört kein garten mehr, aber ich darf ein paar kübel auf das sonnige garagendach der vermieter stellen: dort wohnt meine compassion jetzt. im großen topf blüht sie nicht mehr so üppig wie anfangs im vulkanerdeboden. aber auch in diesem jahr hat sie sich wieder an mich verschwendet und mir dutzende blüten beschert.

heute habe ich ihre für dieses jahr wohl letzte sich öffnende knospe geschnitten. sie wirkt schon etwas müde nach den ersten frostigen nächten, und in ihren duft mischt sich ein hauch von melancholie.

weiterer knospennachwuchs ist keiner mehr in sicht. auch nicht von den anderen rosen, die im lauf der jahre dazu gekommen sind: dreizehn stachelige dornenfeen hüte ich inzwischen auf des vermieters garagendach. jede anders und jede willkommen in ihrer eigenen art.

so befindet sich meine compassion nun in bester gesellschaft. ihre liebste freundin ist eine dunkelrote, besonders stachelige mit namen 'fisherman's (girl-)friend'. dieses englische duftwunder kam im letzten jahr zu uns, geschenk einer lieben lieben freundin.

die rosen sind mir ein großer trost geworden und luxus in meinem prekären leben. in vielen anderen dingen habe ich gelernt, bescheiden zu werden, ohne verzichten zu müssen. es ist alles eine frage der würde. aber rosenduft muss sein!

wenn das internet duften könnte, würde das portrait der compassion auch vor eurem bildschirm jetzt ein feines rosenaroma verbreiten. vor meinem steht sie ja noch einmal in echt. aber pixel sind - in diesem falle: leider - geruchlos.

nicht mehr lang, dann werden auch ihre letzten blätter fallen. für lange monate wird meine schöne rose nichts anderes sein als ein stacheliger störrischer stock mit nichts dran.

so ist das im herbst. die ernte ist eingefahren. ehe der winter kommt heißt es, sich von vielem zu verabschieden, ballast abzuwerfen.

der duft der rose ist für mich nicht ganz verloren: ich habe ihn konserviert in meinem badesalz, um meiner erinnerung auf die sprünge zu helfen im winter. damit ich nicht vergesse, dass nach langer kalter eiszeit auch in meinem leben wieder duftender sommer werden wird. irgendwann.

ich muss nur ganz ganz fest daran glauben.


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Donnerstag, 22. Oktober 2009

besondere maßnahmen VI - haarsträubende haarabschneiderei

manch eineR sagt, ich hätte haare auf den zähnen. das mag sein, aber die sind die meiste zeit gut gekämmt.

bisweilen habe ich haare in der tastatur. aber die werden immer weniger, seitdem die katzen nicht mehr da sind.

ich habe noch drei goldene barthaare am kinn, so richtig dicke stoppelige. das vierte ist schon weiß. regelmäßig vor wichtigen terminen denke ich darüber nach, ob ich sie auszupfe oder nicht.

die meisten haare habe ich auf dem kopf, wuschelgelockt – und die wollen immer gut frisiert sein.



das aber ist nicht so einfach, wie es sich anhört. ich bin schon öfter heulend und fluchend vom friseur nach hause gekommen als vom zahnarzt.

irgendwie scheint das eine schwierige sache zu sein, gelockte haare in eine lockige frisur zu verwandeln, und ich habe nur selten erlebt, dass das jemandem bei mir auf anhieb gelungen wäre. es ist übrigens keine frage des geldes, ob es gut wird oder nicht. die eine kann es – der andere nicht.

einer, ders konnte, war mein polnischer frisör in berlin. andré. sehr charmant. sehr schwul. als ich ihn kennenlernte, war er noch lehrling in einer kleinen vorstadt­klitsche. da ging ich normalerweise nie rein, weil dieser laden nichts anderes erwarten ließ als eben genau neuköllner vorstadthaarschnitte: super­blonde dauer­wellen mit noch superblonderen strähnchen, passend zu spackig sitzenden glitzer­leggings, knatschblauem lidschatten und quietscherosa lippen­stift. cindy von marzahn hatte sich damals noch nicht erfunden, aber die ureinwohnerinnen von berlin-neukölln sahen schon immer so aus.

ich war wohl auf einem meiner immer wiederkehrenden „ab-sofort-muss-alles-anders-werden“-trips. die beginnen oft mit einem spontanen frisörbesuch, welcher dann wiederum leider oft in obigem heulen-und-fluchen endet, womit dann wieder alles beim alten wäre.

ganz spontan und wagemutig landete ich dies eine mal also in der neuköllner vorstadtklitsche beim lehrling auf dem frisierstuhl. aber bloß, weil die damen alle beschäftigt waren. andré war der einzige mann im laden. ich war skeptisch, ließ ihn aber machen. andré machte. charmant und liebevoll. vergnügt auf irgendeiner droge. aber gekonnt und perfekt. es war kaum zu glauben: ich verließ den frisör­laden …. und ich gefiel mir gut!

seither und solange ich in berlin blieb, ließ ich an meinen charakterkopf nur noch andré aus polen. egal in welchem salon er nach der lehre arbeitete, ich reiste ihm hinterher, kreuz und quer durch die große stadt. ich wurde sein haarschneide-groupie, und ich bereute es nie. seine schnitte waren jedes mal haargenau, von ausgesucht pfiffiger eleganz, wunderbar ausgeglichen in den proportionen und immer passend zu meinem typ:

nie zuvor hatte ich die erfahrung gemacht, dass mein widerspenstig krauser kopf auf so viele verschiedene arten schön sein konnte.

andré hatte - was haare angeht - den richtigen blick für den goldenen schnitt. das hat er mir viel später einmal erklärt. wenn er einen menschen vor sich sah, dann ratterten wie die rollen in einem spielautomaten ungefähr drei dutzend verschiedene frisuren durch seinen kopf, die zu demjenigen passen könnten. seine inneren bilder rasteten ein bei genau den drei haarschnitten, in denen sich die kundin dann auch selbst schön finden würde. ein genie! und doch so unprätentios in seiner art. ich blieb ihm lange jahre treu.

das änderte sich erst, als ich ans andere ende der republik zog. zwar verband ich meine berlinbesuche anfangs – ganz jetset! - immer noch mit einem haar­schneidetermin 'chez andré'. aber dann verlor ich ihn aus den augen: meine berlin-besuche wurden seltener, der kontakt brach ab, er arbeitete nicht mehr im alten laden, seine telefonnummer stimmte nicht mehr, und ich fand ihn nie wieder.

nun bin ich angewiesen auf die hiesigen friseure, sozusagen „verloren in der provinz“! es ist fürchterlich. vom billigen haarabschneider am fließband bis hin zum sogenannten edel-coiffeur habe ich sie alle durchprobiert.

es ist zum verzweifeln. sie schaffen es einfach nicht! die eine versteht meine beschreibung nicht – gerade so als ob ich chinesisch rede. die andere sagt „so eine frisur lernen wir hier schon seit jahren nicht mehr“ und die dritte behauptet ganz frech „es gibt kundinnen, die wollen zwei frisuren gleichzeitig“.

sage ich „bitte nur die spitzen“, wird der ehemals wuschelige stufenschnitt stramm über den kamm gezogen und auf eine länge getrimmt. ich bin doch kein pudel!

bitte ich um einen 'wuscheligen nacken' - endet das ganze in einer spießig runden kante mit entenschwanz.

gehe ich zum teuersten laden in stadtmitte, wird es zwar ordentliches handwerk, aber bieder und langweilig.

auch derzeit wage ich mich kaum ohne kopftuch auf die straße. bei meinem letzten friseurversuch schnippelte die lady mit der effilierschere an meinen natur­locken herum. an naturlocken! mit der effilierschere! ohne etwas zu sagen, versteht sich.

ich merke es ja immer erst hinterher, was passiert ist – weil ich vor dem großen frisörspiegel nie die brille aufhabe. als ich sie wieder anzog, war meine locken­pracht zum wischmopp verkommen.

in der hoffnung, dass sich das über nacht von alleine wieder krummlegt, zahlte ich und ging. aber irrtum: der wischmopp blieb auch nach dem waschen ein wischmopp.

am nächsten tag ging ich wieder hin. wir hatten vereinbart, dass ich noch mal kommen dürfe, wenn es mir auch nach 'einmal drüber schlafen' denn so gar nicht gefiele. 'nicht gefallen' war der reine euphemismus. ich war kreuz­unglücklich!

diejenige welche den schaden tags zuvor angerichtet hatte, mochte keinen zweiten versuch an mir wagen. die dann zuständige kollegin zog stramm, kämmte glatt und schnitt wie ein feldwebel; musste hier noch was angleichen und da noch was korrigieren, bis aus dem kinnlangen wischmopp eine nur noch halbwischmopp­hafte kurzhaarfrisur geworden war. kurzhaar! am tag zuvor waren die locken noch schulterlang gewesen. da war ich doppelt bedient.

das allerschlimmste: sie hat die haare gegen meine anweisung vorne so kurz abgeschnitten, dass ich sie nicht einmal mehr hinters ohr klemmen kann. das grenzt an körperverletzung. denn dadurch fallen mir die haare ins gesicht, baumeln ständig vor den augen und triggern mir kopfschmerzen.

deswegen ist für die nächsten mindestens sechs monate wieder einmal die variante haarband angesagt. manchmal denke ich, meine haare sind inzwischen mindestens so prekär wie ich. das ist gar nicht gut für meinen selbstwert.

so langsam weiß ich auch nicht mehr, wo ich zum haareschneiden noch hingehen soll. in solchen augenblicken finde ich mein kleines landleben überhaupt nicht mehr lustig und habe ganz dolles heimweh nach meinem großen ollen berlin.


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Mittwoch, 14. Oktober 2009

besondere maßnahmen V – wohnen bleiben

jeder mensch ist zeit seines lebens ein gast auf unserem blauen planeten. allerdings gibt es erhebliche unterschiede in bezug auf kost und logis.

"viel holz vor der hütte"

wer im eigenen haus lebt, der hat glück. der hat festen boden unter den füßen sein leben lang.

ich hingegen wohne in einem miezhaus, da stellt sich das wohngefühl anders dar:
der boden unter meinen füßen gehört nicht mir, sondern dem vermieter. dem bezahle ich geld dafür, dass ich in meinen socken über seinen teppich laufen darf.

das ist ein seltsam unsicheres lebensgefühl, überall und immer ein zahlender gast zu sein wie in einem dauerhotel. aber im laufe meines lebens habe ich mich einigermaßen daran gewöhnt, dass ich nirgendwo 'zu hause' bin.

noch mal ganz anders wird das wohngefühl, wenn eine nicht genug verdient und das geld für die miete nicht ausreicht. wer prekär lebt, der hat – von gesetz wegen - keinen anspruch mehr auf eine wohnung. eine 'unterkunft' reicht dann völlig aus.

früher gab es einmal die sogenannte arbeitslosenhilfe. das war ein fester betrag im monat, den konnte ich mir einteilen, wie es für mich gepasst hat. für mich war passend, im alltag sparsam zu sein und dafür monatlich etwas mehr geld für eine helle wohnung mit schöner aussicht zu bezahlen. sonne, licht und luft sind mir wichtig: gegen die kopfschmerzen, gegen die depressionen, weil meine kindheit so düster war.

meine wohnung hat zwei zimmer. in dem einen wohne und schlafe und lese und fernsehe und esse ich, mache yoga und bewirte meine gäste. das zweite zimmer ist mein büro mit der schönen aussicht. dort verdiene ich mit diversen besonderen maßnahmen geld, so gut es eben geht, um dem amt nicht allzu sehr auf der tasche zu liegen.

seitdem die arbeitslosenhilfe zu hartz4 wurde, erklärt mir das amt, dass meine wohnung unangemessen sei, weil ich jetzt bedürftig bin. das amt will, dass ich irgendwohin ziehe, wo es weniger miete kostet – und zwar maximal 229,95 euro im monat für die mir erlaubten 45 m².

nicht, dass das amt eine solche „unterkunft“ für mich hätte. weit entfernt! eine wohnung zu den von amts wegen erlaubten konditionen gibt es an meinem ort nicht. auch nicht in den orten drum herum und erst recht nicht in der universitätsstadt nahebei. dort gibt es zu diesem preis noch nicht einmal ein studentInnenzimmer – weder im wohnheim noch privat, ganz zu schweigen von einem wg-zimmer und erst recht nicht eine kleine wohnung.

dennoch wird vom amt behauptet, dass es ohne weiteres möglich sei, eine 'angemessene unterkunft' innerhalb kurzer zeit zu finden. und zwar gleich mehrtausendfach – schließlich bin ich nicht die einzige prekär lebende teilzeitarbeitslose hier im südwesten der bundesdeutschen republik.

obige behauptung wird vom amt natürlich nicht nachgewiesen. statt dessen wird – wenn man innerhalb einer gesetzten frist keine 'angemessene unterkunft' findet - die unterstützung auf den maximal für angemessen gehaltenen betrag gekürzt. einfach so. ohne rücksicht darauf, ob man die tatsächliche miete dann noch bezahlen kann oder nicht.

mir ist das mehrfach passiert. einmal kam am 29. eines monats der bescheid, dass ab dem nächsten monatsersten (also übermorgen) meine miete nicht mehr übernommen wird. ein andermal kam überhaupt gar kein geld mehr, einfach so, ohne erklärung, ohne bescheid. all meine finanziellen reserven sind aufgebraucht durch die lange arbeitslosigkeit. ich stand also beide male da mit gar nix und der vermieter wollte sein geld.

im grunde sind solche 'amtshandlungen' nicht rechtens. das ist dem amt aber egal. es stand sogar in der hiesigen lokalzeitung ein interview mit dem amtschef, in dem er zugab, seine angestellten zu falschen bescheiden anzustiften, um geld zu sparen. weil prekäre sich kaum wehren und selten widerspruch einlegen.

wer gegen falsche bescheide keinen widerspruch einlegt, verzichtet auf geld, das ihm rechtlich zusteht. das sind rund die hälfte der betroffenen. so einfach ist das. wer in deutschland etwas beansprucht, das ihm rechtlich zusteht, der kriegt das nicht einfach so. der wird gedemütigt schon bei der antragstellung. keine leistung ohne leiden! mit „fordern und fördern“ hatte das noch nie etwas zu tun. „folter“ wäre in meinen augen ein treffenderes wort.

solcherlei kafkaeske schikanen bedrohen mich in meiner existenz, ziehen mir den boden unter den füßen weg – der ja ohnehin nicht einmal mir selbst gehört. ich reagiere jedes mal mit heftigen krankheiten. jedes mal wird mein mühsam erarbeitetes seelisch-körperliches gleichgewicht aus der bahn geworfen: schweißausbrüche und alpträume, schlafstörungen und kopfschmerzen, zittern, zähneknirschen und tinnitus, angstzustände und panikattacken, schwere depressionen bis hin zu todessehnsucht und selbstmordgedanken sind die folge. tage- und manchmal wochenlang kann ich dann das haus kaum verlassen; wage es gar nicht vor die tür zu gehen aus angst, dass meine wohnung nicht mehr da ist, wenn ich zurückkomme.

seit jahren wird mir von fachärztInnen immer wieder bestätigt, dass eine beständige, stabile wohnsituation sehr wichtig ist für meine gesundheit und damit auch eine grundbedingung für den erhalt meiner arbeitsfähigkeit. um ein paar euro zu sparen, nimmt das amt meinen gesundheitlichen ruin scheinbar gerne in kauf.

meiner meinung nach ist das beständige wohnen ein menschliches grundbedürfnis. allein die tatsache, dass ich dafür fachärztliche gutachten benötige, ist mehr als grotesk.

also habe ich dem amt in den vergangenen jahren gutachten von etwa einem halben dutzend verschiedenen fachärztInnen und therapeutInnen vorgelegt. sogar der leitende chefarzt des amtsärztlichen dienstes hat mehrfach gutachterlich bescheinigt, dass mir ein umzug aus gesundheitlichen gründen nicht zumutbar sei.

ob und wie lange ich jeweils „wohnen bleiben darf“ liegt nicht im ermessen der ärzte, sondern im ermessen der jeweiligen sachbearbeiterIn. die gutachten werden dort manchmal anerkannt, manchmal auch nicht. mal für eine weile und dann wieder von vorn. ich habe überhaupt keine sicherheit. feste zusagen bezüglich der erlaubten wohndauer gibt es nicht.

jetzt gerade lief wieder so ein verfahren. es traf mich aus heiterem himmel mitten im schönsten sommer und hat sich fast zweieinhalb monate lang hingezogen. obwohl ich alle unterlagen und neue atteste und schweigepflichtsentbindungserklärungen etc rubbeledupp ratzfatz schnell beisammen hatte und eingereicht habe. man ließ mich warten:

zweieinhalb monate angst und panik und kopfschmerzen und tinnitus und depressionen und ....

heute endlich kam per einschreiben das neue gutachten vom amtsarzt: ".... ist derzeit und bis auf weiteres ein umzug aus gesundheitlichen gründen nicht möglich.“

ich bin sehr erleichtert. fürs erste. ob aber die leistungsabteilung sich an das gutachten hält und für wie lange, dass weiß man nie. es ist jetzt einfach mal für eine weile weniger schlimm. 'gut' ist es noch lange nicht.


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