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Wir sind umgezogen!

Januar 2021

Das Büro für besondere Maßnahmen ist ab sofort erreichbar auf mojour.de

Nach und nach werden alte Beiträge – ggf. aktualisiert und überarbeitet – dorthin umziehen. Bitte folgen ... :-)

Donnerstag, 29. Oktober 2009

die letzte rose im herbst

als ich vor mehr als sieben jahren in den süden zog, entdeckte ich den duft der rosen für mich.

schon seltsam, dass ich bis in meine lebensmitte dafür gebraucht habe. natürlich habe ich rosenduft auch vorher gemocht. aber niemals war er so wichtig für mich, dass ich ihn für immer um mich gewünscht hätte.

die rosen, die ich im blumenladen kaufte, die ich geschenkt bekam und die meine großstadtwohnung schmückten: sie ernährten mich allein optisch, berührten nur selten olfaktorisch meine seele.

zu meiner ersten wohnung auf dem land gehörte ein kleiner garten. keine frage – da musste eine rose her! ich brachte irgend eine mit aus dem baumarkt. ohne wissen und ohne den hauch einer ahnung, dass ich eine der schönsten und wertvollsten rosen überhaupt erwischt hatte, und dass diese der grundstock werden sollte für eine stachelige duftleidenschaft.


innerhalb weniger monate war meine baumarktrose meterhoch. schwer vom duft der blütenbüschel bogen sich die ranken. seither verduftet sie auf meinem schreibtisch, aromatisiert meinen tee und verwandelt mein schnödes badesalz in ein luxuriöses blütenblättermeer. jedes jahr aufs neue, von mitte mai bis weit in den herbst:

compassion heißt sie, das mitgefühl: kitschig rosa, manchmal mit gelbem schimmer oder irgendwie lachs – je nach wetter und dünger und alter ändert sie immer wieder einmal ihre farbe. der duft aber bleibt. daran erkenne ich sie mit geschlossenen augen.

zu meiner jetzigen wohnung gehört kein garten mehr, aber ich darf ein paar kübel auf das sonnige garagendach der vermieter stellen: dort wohnt meine compassion jetzt. im großen topf blüht sie nicht mehr so üppig wie anfangs im vulkanerdeboden. aber auch in diesem jahr hat sie sich wieder an mich verschwendet und mir dutzende blüten beschert.

heute habe ich ihre für dieses jahr wohl letzte sich öffnende knospe geschnitten. sie wirkt schon etwas müde nach den ersten frostigen nächten, und in ihren duft mischt sich ein hauch von melancholie.

weiterer knospennachwuchs ist keiner mehr in sicht. auch nicht von den anderen rosen, die im lauf der jahre dazu gekommen sind: dreizehn stachelige dornenfeen hüte ich inzwischen auf des vermieters garagendach. jede anders und jede willkommen in ihrer eigenen art.

so befindet sich meine compassion nun in bester gesellschaft. ihre liebste freundin ist eine dunkelrote, besonders stachelige mit namen 'fisherman's (girl-)friend'. dieses englische duftwunder kam im letzten jahr zu uns, geschenk einer lieben lieben freundin.

die rosen sind mir ein großer trost geworden und luxus in meinem prekären leben. in vielen anderen dingen habe ich gelernt, bescheiden zu werden, ohne verzichten zu müssen. es ist alles eine frage der würde. aber rosenduft muss sein!

wenn das internet duften könnte, würde das portrait der compassion auch vor eurem bildschirm jetzt ein feines rosenaroma verbreiten. vor meinem steht sie ja noch einmal in echt. aber pixel sind - in diesem falle: leider - geruchlos.

nicht mehr lang, dann werden auch ihre letzten blätter fallen. für lange monate wird meine schöne rose nichts anderes sein als ein stacheliger störrischer stock mit nichts dran.

so ist das im herbst. die ernte ist eingefahren. ehe der winter kommt heißt es, sich von vielem zu verabschieden, ballast abzuwerfen.

der duft der rose ist für mich nicht ganz verloren: ich habe ihn konserviert in meinem badesalz, um meiner erinnerung auf die sprünge zu helfen im winter. damit ich nicht vergesse, dass nach langer kalter eiszeit auch in meinem leben wieder duftender sommer werden wird. irgendwann.

ich muss nur ganz ganz fest daran glauben.


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Donnerstag, 22. Oktober 2009

besondere maßnahmen VI - haarsträubende haarabschneiderei

manch eineR sagt, ich hätte haare auf den zähnen. das mag sein, aber die sind die meiste zeit gut gekämmt.

bisweilen habe ich haare in der tastatur. aber die werden immer weniger, seitdem die katzen nicht mehr da sind.

ich habe noch drei goldene barthaare am kinn, so richtig dicke stoppelige. das vierte ist schon weiß. regelmäßig vor wichtigen terminen denke ich darüber nach, ob ich sie auszupfe oder nicht.

die meisten haare habe ich auf dem kopf, wuschelgelockt – und die wollen immer gut frisiert sein.



das aber ist nicht so einfach, wie es sich anhört. ich bin schon öfter heulend und fluchend vom friseur nach hause gekommen als vom zahnarzt.

irgendwie scheint das eine schwierige sache zu sein, gelockte haare in eine lockige frisur zu verwandeln, und ich habe nur selten erlebt, dass das jemandem bei mir auf anhieb gelungen wäre. es ist übrigens keine frage des geldes, ob es gut wird oder nicht. die eine kann es – der andere nicht.

einer, ders konnte, war mein polnischer frisör in berlin. andré. sehr charmant. sehr schwul. als ich ihn kennenlernte, war er noch lehrling in einer kleinen vorstadt­klitsche. da ging ich normalerweise nie rein, weil dieser laden nichts anderes erwarten ließ als eben genau neuköllner vorstadthaarschnitte: super­blonde dauer­wellen mit noch superblonderen strähnchen, passend zu spackig sitzenden glitzer­leggings, knatschblauem lidschatten und quietscherosa lippen­stift. cindy von marzahn hatte sich damals noch nicht erfunden, aber die ureinwohnerinnen von berlin-neukölln sahen schon immer so aus.

ich war wohl auf einem meiner immer wiederkehrenden „ab-sofort-muss-alles-anders-werden“-trips. die beginnen oft mit einem spontanen frisörbesuch, welcher dann wiederum leider oft in obigem heulen-und-fluchen endet, womit dann wieder alles beim alten wäre.

ganz spontan und wagemutig landete ich dies eine mal also in der neuköllner vorstadtklitsche beim lehrling auf dem frisierstuhl. aber bloß, weil die damen alle beschäftigt waren. andré war der einzige mann im laden. ich war skeptisch, ließ ihn aber machen. andré machte. charmant und liebevoll. vergnügt auf irgendeiner droge. aber gekonnt und perfekt. es war kaum zu glauben: ich verließ den frisör­laden …. und ich gefiel mir gut!

seither und solange ich in berlin blieb, ließ ich an meinen charakterkopf nur noch andré aus polen. egal in welchem salon er nach der lehre arbeitete, ich reiste ihm hinterher, kreuz und quer durch die große stadt. ich wurde sein haarschneide-groupie, und ich bereute es nie. seine schnitte waren jedes mal haargenau, von ausgesucht pfiffiger eleganz, wunderbar ausgeglichen in den proportionen und immer passend zu meinem typ:

nie zuvor hatte ich die erfahrung gemacht, dass mein widerspenstig krauser kopf auf so viele verschiedene arten schön sein konnte.

andré hatte - was haare angeht - den richtigen blick für den goldenen schnitt. das hat er mir viel später einmal erklärt. wenn er einen menschen vor sich sah, dann ratterten wie die rollen in einem spielautomaten ungefähr drei dutzend verschiedene frisuren durch seinen kopf, die zu demjenigen passen könnten. seine inneren bilder rasteten ein bei genau den drei haarschnitten, in denen sich die kundin dann auch selbst schön finden würde. ein genie! und doch so unprätentios in seiner art. ich blieb ihm lange jahre treu.

das änderte sich erst, als ich ans andere ende der republik zog. zwar verband ich meine berlinbesuche anfangs – ganz jetset! - immer noch mit einem haar­schneidetermin 'chez andré'. aber dann verlor ich ihn aus den augen: meine berlin-besuche wurden seltener, der kontakt brach ab, er arbeitete nicht mehr im alten laden, seine telefonnummer stimmte nicht mehr, und ich fand ihn nie wieder.

nun bin ich angewiesen auf die hiesigen friseure, sozusagen „verloren in der provinz“! es ist fürchterlich. vom billigen haarabschneider am fließband bis hin zum sogenannten edel-coiffeur habe ich sie alle durchprobiert.

es ist zum verzweifeln. sie schaffen es einfach nicht! die eine versteht meine beschreibung nicht – gerade so als ob ich chinesisch rede. die andere sagt „so eine frisur lernen wir hier schon seit jahren nicht mehr“ und die dritte behauptet ganz frech „es gibt kundinnen, die wollen zwei frisuren gleichzeitig“.

sage ich „bitte nur die spitzen“, wird der ehemals wuschelige stufenschnitt stramm über den kamm gezogen und auf eine länge getrimmt. ich bin doch kein pudel!

bitte ich um einen 'wuscheligen nacken' - endet das ganze in einer spießig runden kante mit entenschwanz.

gehe ich zum teuersten laden in stadtmitte, wird es zwar ordentliches handwerk, aber bieder und langweilig.

auch derzeit wage ich mich kaum ohne kopftuch auf die straße. bei meinem letzten friseurversuch schnippelte die lady mit der effilierschere an meinen natur­locken herum. an naturlocken! mit der effilierschere! ohne etwas zu sagen, versteht sich.

ich merke es ja immer erst hinterher, was passiert ist – weil ich vor dem großen frisörspiegel nie die brille aufhabe. als ich sie wieder anzog, war meine locken­pracht zum wischmopp verkommen.

in der hoffnung, dass sich das über nacht von alleine wieder krummlegt, zahlte ich und ging. aber irrtum: der wischmopp blieb auch nach dem waschen ein wischmopp.

am nächsten tag ging ich wieder hin. wir hatten vereinbart, dass ich noch mal kommen dürfe, wenn es mir auch nach 'einmal drüber schlafen' denn so gar nicht gefiele. 'nicht gefallen' war der reine euphemismus. ich war kreuz­unglücklich!

diejenige welche den schaden tags zuvor angerichtet hatte, mochte keinen zweiten versuch an mir wagen. die dann zuständige kollegin zog stramm, kämmte glatt und schnitt wie ein feldwebel; musste hier noch was angleichen und da noch was korrigieren, bis aus dem kinnlangen wischmopp eine nur noch halbwischmopp­hafte kurzhaarfrisur geworden war. kurzhaar! am tag zuvor waren die locken noch schulterlang gewesen. da war ich doppelt bedient.

das allerschlimmste: sie hat die haare gegen meine anweisung vorne so kurz abgeschnitten, dass ich sie nicht einmal mehr hinters ohr klemmen kann. das grenzt an körperverletzung. denn dadurch fallen mir die haare ins gesicht, baumeln ständig vor den augen und triggern mir kopfschmerzen.

deswegen ist für die nächsten mindestens sechs monate wieder einmal die variante haarband angesagt. manchmal denke ich, meine haare sind inzwischen mindestens so prekär wie ich. das ist gar nicht gut für meinen selbstwert.

so langsam weiß ich auch nicht mehr, wo ich zum haareschneiden noch hingehen soll. in solchen augenblicken finde ich mein kleines landleben überhaupt nicht mehr lustig und habe ganz dolles heimweh nach meinem großen ollen berlin.


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Mittwoch, 14. Oktober 2009

besondere maßnahmen V – wohnen bleiben

jeder mensch ist zeit seines lebens ein gast auf unserem blauen planeten. allerdings gibt es erhebliche unterschiede in bezug auf kost und logis.

"viel holz vor der hütte"

wer im eigenen haus lebt, der hat glück. der hat festen boden unter den füßen sein leben lang.

ich hingegen wohne in einem miezhaus, da stellt sich das wohngefühl anders dar:
der boden unter meinen füßen gehört nicht mir, sondern dem vermieter. dem bezahle ich geld dafür, dass ich in meinen socken über seinen teppich laufen darf.

das ist ein seltsam unsicheres lebensgefühl, überall und immer ein zahlender gast zu sein wie in einem dauerhotel. aber im laufe meines lebens habe ich mich einigermaßen daran gewöhnt, dass ich nirgendwo 'zu hause' bin.

noch mal ganz anders wird das wohngefühl, wenn eine nicht genug verdient und das geld für die miete nicht ausreicht. wer prekär lebt, der hat – von gesetz wegen - keinen anspruch mehr auf eine wohnung. eine 'unterkunft' reicht dann völlig aus.

früher gab es einmal die sogenannte arbeitslosenhilfe. das war ein fester betrag im monat, den konnte ich mir einteilen, wie es für mich gepasst hat. für mich war passend, im alltag sparsam zu sein und dafür monatlich etwas mehr geld für eine helle wohnung mit schöner aussicht zu bezahlen. sonne, licht und luft sind mir wichtig: gegen die kopfschmerzen, gegen die depressionen, weil meine kindheit so düster war.

meine wohnung hat zwei zimmer. in dem einen wohne und schlafe und lese und fernsehe und esse ich, mache yoga und bewirte meine gäste. das zweite zimmer ist mein büro mit der schönen aussicht. dort verdiene ich mit diversen besonderen maßnahmen geld, so gut es eben geht, um dem amt nicht allzu sehr auf der tasche zu liegen.

seitdem die arbeitslosenhilfe zu hartz4 wurde, erklärt mir das amt, dass meine wohnung unangemessen sei, weil ich jetzt bedürftig bin. das amt will, dass ich irgendwohin ziehe, wo es weniger miete kostet – und zwar maximal 229,95 euro im monat für die mir erlaubten 45 m².

nicht, dass das amt eine solche „unterkunft“ für mich hätte. weit entfernt! eine wohnung zu den von amts wegen erlaubten konditionen gibt es an meinem ort nicht. auch nicht in den orten drum herum und erst recht nicht in der universitätsstadt nahebei. dort gibt es zu diesem preis noch nicht einmal ein studentInnenzimmer – weder im wohnheim noch privat, ganz zu schweigen von einem wg-zimmer und erst recht nicht eine kleine wohnung.

dennoch wird vom amt behauptet, dass es ohne weiteres möglich sei, eine 'angemessene unterkunft' innerhalb kurzer zeit zu finden. und zwar gleich mehrtausendfach – schließlich bin ich nicht die einzige prekär lebende teilzeitarbeitslose hier im südwesten der bundesdeutschen republik.

obige behauptung wird vom amt natürlich nicht nachgewiesen. statt dessen wird – wenn man innerhalb einer gesetzten frist keine 'angemessene unterkunft' findet - die unterstützung auf den maximal für angemessen gehaltenen betrag gekürzt. einfach so. ohne rücksicht darauf, ob man die tatsächliche miete dann noch bezahlen kann oder nicht.

mir ist das mehrfach passiert. einmal kam am 29. eines monats der bescheid, dass ab dem nächsten monatsersten (also übermorgen) meine miete nicht mehr übernommen wird. ein andermal kam überhaupt gar kein geld mehr, einfach so, ohne erklärung, ohne bescheid. all meine finanziellen reserven sind aufgebraucht durch die lange arbeitslosigkeit. ich stand also beide male da mit gar nix und der vermieter wollte sein geld.

im grunde sind solche 'amtshandlungen' nicht rechtens. das ist dem amt aber egal. es stand sogar in der hiesigen lokalzeitung ein interview mit dem amtschef, in dem er zugab, seine angestellten zu falschen bescheiden anzustiften, um geld zu sparen. weil prekäre sich kaum wehren und selten widerspruch einlegen.

wer gegen falsche bescheide keinen widerspruch einlegt, verzichtet auf geld, das ihm rechtlich zusteht. das sind rund die hälfte der betroffenen. so einfach ist das. wer in deutschland etwas beansprucht, das ihm rechtlich zusteht, der kriegt das nicht einfach so. der wird gedemütigt schon bei der antragstellung. keine leistung ohne leiden! mit „fordern und fördern“ hatte das noch nie etwas zu tun. „folter“ wäre in meinen augen ein treffenderes wort.

solcherlei kafkaeske schikanen bedrohen mich in meiner existenz, ziehen mir den boden unter den füßen weg – der ja ohnehin nicht einmal mir selbst gehört. ich reagiere jedes mal mit heftigen krankheiten. jedes mal wird mein mühsam erarbeitetes seelisch-körperliches gleichgewicht aus der bahn geworfen: schweißausbrüche und alpträume, schlafstörungen und kopfschmerzen, zittern, zähneknirschen und tinnitus, angstzustände und panikattacken, schwere depressionen bis hin zu todessehnsucht und selbstmordgedanken sind die folge. tage- und manchmal wochenlang kann ich dann das haus kaum verlassen; wage es gar nicht vor die tür zu gehen aus angst, dass meine wohnung nicht mehr da ist, wenn ich zurückkomme.

seit jahren wird mir von fachärztInnen immer wieder bestätigt, dass eine beständige, stabile wohnsituation sehr wichtig ist für meine gesundheit und damit auch eine grundbedingung für den erhalt meiner arbeitsfähigkeit. um ein paar euro zu sparen, nimmt das amt meinen gesundheitlichen ruin scheinbar gerne in kauf.

meiner meinung nach ist das beständige wohnen ein menschliches grundbedürfnis. allein die tatsache, dass ich dafür fachärztliche gutachten benötige, ist mehr als grotesk.

also habe ich dem amt in den vergangenen jahren gutachten von etwa einem halben dutzend verschiedenen fachärztInnen und therapeutInnen vorgelegt. sogar der leitende chefarzt des amtsärztlichen dienstes hat mehrfach gutachterlich bescheinigt, dass mir ein umzug aus gesundheitlichen gründen nicht zumutbar sei.

ob und wie lange ich jeweils „wohnen bleiben darf“ liegt nicht im ermessen der ärzte, sondern im ermessen der jeweiligen sachbearbeiterIn. die gutachten werden dort manchmal anerkannt, manchmal auch nicht. mal für eine weile und dann wieder von vorn. ich habe überhaupt keine sicherheit. feste zusagen bezüglich der erlaubten wohndauer gibt es nicht.

jetzt gerade lief wieder so ein verfahren. es traf mich aus heiterem himmel mitten im schönsten sommer und hat sich fast zweieinhalb monate lang hingezogen. obwohl ich alle unterlagen und neue atteste und schweigepflichtsentbindungserklärungen etc rubbeledupp ratzfatz schnell beisammen hatte und eingereicht habe. man ließ mich warten:

zweieinhalb monate angst und panik und kopfschmerzen und tinnitus und depressionen und ....

heute endlich kam per einschreiben das neue gutachten vom amtsarzt: ".... ist derzeit und bis auf weiteres ein umzug aus gesundheitlichen gründen nicht möglich.“

ich bin sehr erleichtert. fürs erste. ob aber die leistungsabteilung sich an das gutachten hält und für wie lange, dass weiß man nie. es ist jetzt einfach mal für eine weile weniger schlimm. 'gut' ist es noch lange nicht.


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Donnerstag, 8. Oktober 2009

besondere maßnahmen IV - kill the cat

ein trauriger tag, es regnet in strömen. ein nasser tag heute.

mafia cioccolata ist tot.



achtzehn jahre zwei monate und elf tage war sie meine treue begleiterin. nach langer schwerer krankheit habe ich sie heute einschläfern lassen. sie wog noch zweieinhalb kilo, und nachdem alles vorbei war hatte sie eine art von posthumem schluckauf.

die tierärztin war hier, in meiner wohnung mit der schönen aussicht. es war ganz friedlich, und es fühlt sich auch richtig an. ich bin dieser katze unendlich dankbar, dass sie so lange bei mir war. sie war eine ganz besondere. natürlich - was sonst?!

ich weine in strömen. es ist ein nasser tag heute.

ich werde mafia cioccolata morgen beerdigen im garten im elsass, direkt neben ihrer mama, sozusagen ein doppelgrab. obenauf blüht schon ein großer busch katzenminze, der ist im letzten halben jahr gut gewachsen. kein wunder, es liegt ja auch bester dünger untendrunter.

ich bin - bei aller trauer - gleichzeitig erstaunlich heiter und fühle mich geradezu befreit. unsere letzten gemeinsamen wochen waren viel trauriger als heute. es war schwieriger, die katze krank und mager und schwach zu sehen, ohne helfen zu können.

für heute war alles gut vorbereitet: mit der tierärztin war schon seit monaten abgesprochen, dass sie dann ins haus kommt. ich hatte sogar ihre handynummer samt erlaubnis, sie jederzeit anrufen zu dürfen.

die sargkiste mit zubehör lag auf dem dachboden parat, und wie bestellt blüht heute die letzte knospe meiner duftendsten lieblingsrose "fisherman's girlfriend".

meine freundin in frankreich freut sich schon, mich wiederzusehen. sie sagte neulich: „dadurch, dass deine katze in meinem garten begraben ist, werden wir immer eine verbindung miteinander haben." so liebevoll kann man das sehen!

ich habe in den nächten der letzten zwei wochen fast nicht geschlafen, weil die kranke katze so unruhig war, mal hier mal da mal jaulte mal daneben pieselte, weil die beine zu schwach waren, um noch über den rand vom katzenklo zu klettern. sie fraß nichts mehr, sie trank viel und spuckte alles in hohem bogen wieder aus.

und immer die angst, wenn ich mal das haus verlassen habe - ob sie noch lebt, wenn ich zurück komme? oder ob sie schon tot in irgendeiner ecke ....

jetzt ist alles friedlich. auch in mir drin. sie liegt da so gemütlich, die ohren gespitzt wie eh und je.

zwischendurch habe ich eine kurze phantasie, dass sie wieder raushüpst aus ihrer weinkiste und grinst "ätschbätsch! - es war alles nur ein trick! wir fangen noch mal von vorne an .... hahah!"

ich erinnere mich an einen abend in der selbsthilfegruppe, ganz am anfang meiner abstinenten zeit. da saß die moderatorin - die damals bereits mir unvorstellbar lang erscheinende zehn jahre abstinent lebte - am kopfende des großen tisches und berichtete, dass ihre katze an dem tag gestorben war. dabei hatte sie tränen in den augen.

ich weiß noch, wie ich damals dachte und das auch sagte: „au weia. DAS würde und werde ich NIEMALS OHNE alkohol überstehen."

dieser abend liegt zehn jahre zurück.
ich habe mich geirrt. ich bin gewachsen.

nun bin ich selbst diese mir damals unvorstellbar langen zehn jahre abstinent. und es tut gut, zu sehen, dass auch ich nun OHNE alkohol ganz gesund mit dem tod meiner geliebten katze umgehen kann.

loslassen ist möglich.
der tod ist kein tabu.
ich finde, damit habe ich viel gelernt in diesem jahr.


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Dienstag, 6. Oktober 2009

besondere maßnahmen III – kopfschmerzen

ich habe kopfschmerzen heute. das passiert mir öfter. es ist nix neues:

weintrauben "gutedel" und walnüsse

kopfschmerzen hatte ich schon als kind, als schulmädchen. kopfschmerzen hatte ich später als studentin und noch später als journalistin. mein leben lang habe ich oft dagegen angetrunken. nach dem ersten glas bier oder wein waren die kopfschmerzen erst einmal weg. nach dem dritten oder vierten glas bier oder wein waren dann andere kopfschmerzen da – aber da wußte ich wenigstens, wo die herkamen. als ich vor zehn jahren mit dem alkohol aufgehört habe, kamen die kopfschmerzen dauerhaft zurück.

mit viel geduld, vielen vergeblichen versuchen, mit der hilfe von kompetenten ärztInnen und therapeutinnen - zeitweise auch mit medikamenten - habe ich die kopfschmerzen ganz gut in den griff gekriegt. das hat anderthalb jahre gedauert. dauerhaft weg sind sie natürlich nicht. das bleibt meine ewige baustelle.

derzeit sind sie wieder da. weil in meinem leben alles zu viel ist, vielleicht? oder manches zu wenig? ach! was weiß denn ich!

vor ziemlich genau fünfzehn jahren habe ich mir die kopfschmerzen einmal von der seele geschrieben. beim aufräumen neulich fiel mir der text wieder in die hände, und ich bin ganz erschrocken, wie aktuell das alles noch ist:

kopfschmerzen

kopfschmerzen ist – mir ist alles zu viel
kopfschmerzen ist – es ist mir zu eng
kopfschmerzen ist – ich krieg keine luft
kopfschmerzen ist – hilflos
kopfschmerzen ist – lass' mich in ruhe
kopfschmerzen ist – resigniert
kopfschmerzen ist – überfordert
kopfschmerzen ist – mein leben ist sinnlos
kopfschmerzen ist – rabääh

kopfschmerzen text kopfschmerzen
gelähmt im kopf wund im herzen zurückschlagen wollen nicht dürfen nicht können allein alleingelassen die wut der schmerz der schmerz der schmerz
warum helfen die mir nicht
der schmerz der schmerz hört das denn niemals auf
es wird besser werden, sagt sie.

kopfschmerzen ist – ich habe angst
kopfschmerzen ist – ach

ich bin nicht mehr zweieinhalb. wer mir damals nicht geholfen hat, wird es auch heute nicht tun. das tut so weh und die kucken zu. alle, alle sitzen sie in meinem kopf und streiten sich um meine gedanken. diktieren gefühle. das ist gut, das gefällt dir doch. nein das tut weh ich mag das nicht. kind sei still das ist gut hast du gehört. mama nein aua aua.
mein kopf. da hocken sie heute noch.
schmerz ist liebe.
allein sein ist nähe.
pflicht ist spaß.
lust ist verboten.
nein. lust ist nicht verboten. sie kommt einfach nicht vor.

kopfschmerzen ist - ihr habt mich verraten
kopfschmerzen ist – ihr habe mich an den opa verkauft
kopfschmerzen ist – wir haben es doch nur gut gemeint
kopfschmerzen ist – alles gelogen

köpfchen aua
wir werden dir dein krauses lockenköpfchen schon noch zurechtrücken
du immer
du bist ja verdötscht
was willst du jetzt schon wieder – siehst du nicht, dass ich kopfschmerzen habe?!
kind sei still
mama aua

kopfschmerzen ist – lieber tot sein wollen
kopfschmerzen ist – ihr werdet schon sehn was ihr davon habt
kopfschmerzen ist – schlechtes gewissen
kopfschmerzen ist – ich bin schuld
kopfschmerzen ist – ich bin nicht gut genug
kopfschmerzen ist – die wollen mich hier sowieso nicht

wenn sie mich wollten, dann wären sie netter zu mir. sind sie aber nicht. also bin ich ein kosmischer irrtum. eine last, die ihnen „gerade noch“ gefehlt hat.
jetzt müssen sie irgendwie damit zurechtkommen, dass ausgerechnet ich auch noch da bin. kind, du bist mir zu schwer. kind ohne namen. kind bis in alle zeiten. kind ist lästig. lästige last. wenn wir das gewusst hätten, hätten wir dich nicht bestellt. der ewige versandhauskatkalog. kind leider ohne umtauschrecht. du warst immer ein wunschkind. haha. also benimm dich gefälligst so, wie wir dich uns gewünscht haben.

kopfschmerzen ist – keiner hört mir zu
kopfschmerzen ist – immer bin ich falsch

wenn ich mal was richtig mache, und keiner will es zur kenntnis nehmen – habe ich es dann überhaupt gemacht? oder war es doch wieder falsch, weil keiner zugeguckt hat? also besser gar nix tun?

kopfschmerzen ist – nichts tun dürfen
kopfschmerzen ist – nichts tun wollen dürfen
kopfschmerzen ist – nichts tun dürfen wollen
kopfschmerzen ist – durcheinanderohnenende

kopfschmerzen ist – nix wie weg hier!

natürlich bin ich noch hier. genau so wie die kopfschmerzen noch da sind. vor meiner vergangenheit kann ich nicht wegrennen. vor meiner gegenwart auch nicht.


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