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Sonntag, 22. August 2010

ratlos

seit dreieinhalb wochen bin ich nun in dieser klinik, mehr als die hälfte 'meiner zeit' ist um – und ich verstehe immer weniger, was das hier eigentlich soll.


das ist schlimm für mich, denn ich hatte doch so gekämpft, hatte so lange gewartet, hatte auch große hoffnungen in die behandlung hier gesetzt. zumindest hatte die ärztin immer so getan, als wenn das was ganz großes wäre, so eine rehab machen zu dürfen.

ganz sicher ist es zu früh, etwas konkretes, abschließendes zu sagen. nach wie vor stecke ich ja mitten drin im prozess und bin höchst angestrengt damit beschäftigt, mich den zu- und umständen hier anzupassen.

mir fehlen die kraft, aber vor allem auch das hintergrundwissen und ein adäquater spiegel, um angemessen einordnen zu können, um sagen zu können „was passiert hier wirklich?“

ich weiß es nicht. ich weiß nur, dass ich mich hier nicht wohl fühle. unfrei, eingezwängt. ich erfülle den plan der klinikleitung. nicht meinen.

in der kommenden woche steht eine sogenannte „chefarztvisite“ im terminplan. zehn minuten arzttermin bei einer frau, die mich noch nie gesehen hat. dabei wird auch die diagnose noch einmal überprüft. ein kurzes frage- und antwortspiel wird entscheiden über wohl und wehe und über das, was auf jahre hin in meinen akten steht.

was machen die da? was passiert?! hatte ich schon geschrieben, dass es schwierig ist, bei all den terminen einen rhythmus zu finden? die chefarztvisite liegt mitten in der mittagessenszeit. auch dafür werde ich auf eine mahlzeit verzichten. rhythmus adé.

in der vergangenen woche ist es mir tatsächlich einmal gelungen, an einem nachmittag drei freie stunden am stück zu haben. zum glück hat es da nicht geregnet. ich bin sofort ans meer, endlich! die ganze zeit immer an der wasserkante langgelaufen.

die wellen, die weite: das beruhigt meine flatternden nervenenden und besänftigt den tinnitus. zumindest solange ich dort bin. dann stehe ich am ufer und weine. salzwasser zu salzwasser. wieder zurück in der klinik, hat das aufatmen sofort ein ende. mir ist hier sehr eng ums herz.

die klinik ist teil eines konzerns und fährt ein sparprogramm. zimmer werden im akkord geputzt, mitarbeiterInnen erhalten so wenig lohn wie nur möglich. so viel immerhin habe ich inzwischen herausgefunden. fast schäme ich mich, dass es mir hier auf kosten unterbezahlter schufterei anderer gut gehen soll.

in dieser institution ist alles von vorn bis hinten 'durchoptimiert', jede minute geplant, die qualität aufs beste 'gemanaged'. will sagen, für menschen ist hier eigentlich kein platz.

zwanzig minuten haltungsgymnastik. dreißig minuten qi gong. zwanzig minuten laufband. dreißig minuten therapiegespräch. zwanzig minuten massage. neunzig minuten gruppentherapie. dreißig minuten entspannungstherapie. zwanzig minuten massage. neunzig minuten beschäftigungstherapie. und - ja tatsächlich! - zwanzig minuten fango.

alles in allem soll ein echter arbeitstag simuliert werden. zwanzig minuten dies. dreißig minuten jenes. zwischen acht und siebzehn uhr. du musst leiden, um zu heilen! wir quälen dich, damit es dir besser geht! rehab ist kein urlaub!

wie kann mir ein solcher plan helfen, mein leben neu zu ordnen? wie kann ich daraus neue impulse gewinnen, um anders umzugehen mit dem schmerz, der von innen kommt? was hilft mir das?

der montagmorgen beginnt mit der gruppentherapie. das bedeutet in meinem fall: statt frühstück eine dreiviertelstunde gemeinsamer gruppenzwangsspaziergang unter aufsicht einer physiotherapeutin. durch den wald, am strand entlang, mit sondergenehmigung über das gelände des grandhotels. in der vergangenen woche durften wir uns bei regen auf dem bahnhofsvorplatz im kreis aufstellen und ein lustiges gruppenspiel spielen. das spiel hieß „das ist mein knie“. ist das die vorbereitung aufs altersheim? mir graust es ganz gewaltig.

energetisch fühle ich mich überfordert und bin ständig müde. intellektuell hingegen langweilt mich der alltag in der klinik. mit der geistigen, spirituellen langeweile angemessen umzugehen, das ist eine herausforderung. zum glück bringe ich da einiges mit an verinnerlichter motivation. und: ich bin sehr dankbar für meine kluge tischnachbarin. das ist ein großer lichtblick! unsere gespräche, diskussionen und gemeinsame kleine fluchten haben mich schon so manches mal gerettet.

mit das beste, was mir hier bislang passiert: wie immer am meer bewege ich mich mehr und habe in drei wochen vier kilo abgenommen. das sind sechzehn viertelkilo-pakete butter. ich hoffe sehr, dass die dauerhaft wegbleiben. immerhin ein kleiner anfang. vom doofen matronenspeck würde ich mich sehr gerne dauerhaft verabschieden.

das andere, was ich richtig gut finde: dass ich echt weit weg bin von meinem ollen alltag. kein vermieter, der tagtäglich auf seinem akkordeon dudelt! ich muss nicht nachdenken, ob ich mir jetzt noch etwas obst leisten kann oder ein pfund kaffee kaufen darf: hier nehme ich einfach vom buffett was mir schmeckt. außerdem muss ich keine angst haben vor demütigender amtspost im briefkasten.

und das meer natürlich, große mutter aller salzwasser! auch wenn nicht viel zeit ist – so bemühe ich mich doch, jeden tag hinzugehen. zumindest mal kurz gucken. wenn mehr zeit ist fürs meer, gibt es auch mal einen kaffee an der hafenpromenade im nachbarort. da kann ich hin radeln, leute gucken und ablästern. die seele ins blaue baumeln lassen. therapie vergessen und einen klaren kopf kriegen.

neulich gab es zum kaffee einen fettgebackenen spritzkuchen mit ganz viel zuckerguss. und blick aufs meer. das war das beste. das allerbeste überhaupt!


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