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Wir sind umgezogen!

Januar 2021

Das Büro für besondere Maßnahmen ist ab sofort erreichbar auf mojour.de

Nach und nach werden alte Beiträge – ggf. aktualisiert und überarbeitet – dorthin umziehen. Bitte folgen ... :-)

Mittwoch, 29. September 2010

was bleibt

mit dem loslassen bin ich noch längst nicht fertig. das ist für mich ein lebenslanger prozess, alles ist immer im fluss. manchmal gerät er ins stocken. manchmal gibt es ereignisse im innen oder außen, die ihn beschleunigen.

strandgut: sand, granitkiesel, rosa rugosa, haselnüsse, muscheln

die zeit am meer war für mich eine solche gelegenheit. sehr erstaunlich, mit wie wenig zeug ich doch eine ganze weile ganz prima ausgekommen bin. andere hatten weitaus mehr gepäck als ich. in beide richtungen.

natürlich ist auch bei mir einiges dazugekommen. ein neuer sand zum beispiel für meine sandstrandsandsammlung. auch die getrocknete rosenblüte von der promenade bleibt ein weilchen. ebenso die zwei noch nicht eingelösten zaubernüsse, die das rote eichhörnchen im patientengarten mir vor die füße warf.

untrennbar verbunden mit der frage „was lasse ich gehen?“ ist der andere pol: was nehme ich mit? was wird mich noch eine weile begleiten? was ist mir wichtig? was gibt mir halt, im augenblick?

die antwort auf diese fragen ist niemals endgültig. anders als die nach dem loslassen. was ich einmal weggegeben habe, ist für immer fort. bei dingen, die ich jetzt behalte, kann ich mir die gleiche frage in einem monat oder einem jahr noch einmal stellen.

das macht das loslassen für mich schwieriger als das behalten.

außerdem stelle ich fest, dass mit zunehmendem alter meine dinge sich vermehren. ist das so, weil ich jetzt, mit ende vierzig, mehr gelegenheiten gelebt habe, an die ich mich erinnern möchte als - sagen wir mal – mit achtzehn? mit achtzehn zog ich von den eltern fort und nahm fast nichts mit. mein umzugszeug passte damals in zwei pappkartons. inzwischen brauche ich einen mittelgroßen LKW.

warum ist das so viel geworden? habe ich angst, dass meine erinnerung mich vergisst, wenn ich keine beweisstücke mehr in meiner nähe habe? ich gebe zu: ja, das habe ich. manchmal blättere ich alte briefe durch und weiß nicht mehr, wer das überhaupt war, die mir da so liebevoll geschrieben hat. dann erschrecke ich sehr.

seitdem ich finanziell so prekär dastehe, behalte ich mehr als früher, gebe weniger fort. schätze mal, das ist die angst, die dinge nicht mehr einfach so nachkaufen zu können, falls ich sie doch mal wieder brauchen sollte. je weniger geld eine hat, desto mehr gibt sie ja anteilig aus. wenn man tausend euro hat im monat, sind 25 euro für eine handgefertigte schöne milchkaffeetasse aus hauchdünner keramik im verhältnis weniger als wenn man nur 350 hat. das macht die einzelnen dinge wertvoller, auch wenn der preis der gleiche ist.

es ist - merkwürdig genug - auch ein elterlich erlebter alptraum, der mir als kind vererbt wurde. die waren ausgebombt im krieg. nichts mehr gehabt als die kleider am leib. es war schon seltsam genug, als ich mal den wohnungsschlüssel verloren hatte. ich wusste doch, die wohnung war noch da und all mein zeug darin ebenso.

aber die umgekehrte vorstellung: den schlüssel in der tasche zu haben, nach hause zu kommen – und die ganze wohnung und alles zeug darin ist weg und auf immer verloren?!  ich träume das oft, dass ich irgendwo bin, wo eigentlich meine wohnung sein sollte – aber ich bin da ganz verkehrt, gehöre da nicht hin, darf da nicht mehr sein, habe kein zuhause mehr. alles weg. alles sehr feindlich. kein ort mein ort, nirgends nicht.

irgendwie macht‘s auch die einsamkeit, das beziehungsfreie flottieren im kosmos, dass ich mein herz bisweilen mehr an dinge hänge. es ist ja nur ganz selten jemand da, mit der ich solche entzückenden kleinigkeiten wieder wachrufen könnte, wie damals …. „weißt du noch, als wir miteinander auf bali waren, in dem künstlerdorf klungkung, abends auf dem nightmarket, an dem kleinen food-stall die frau mit den schwarzen betel-zähnen, der ihre hühnersuppe, wie lecker die war?!“

als der kokosnussschalensuppenlöffel, den ich mir damals kurz vor oder nach der suppe dort gekauft hatte, kaputt ging – da habe ich rotz und wasser geheult. es ist, als ob es jetzt keinen zeugen mehr gäbe für mein abenteuer.

aus genau diesem grund müssen manche sachen einfach bleiben, bis sie auseinanderfallen. die könnte ich niemals weggeben. weil sie eine geschichte haben, die kein anderer kennt und die nur für mich wichtig ist.

das kleine pressglaskännchen zum beispiel, das seit jahr und tag in allen wohnungen egal wo ich war alle umzüge mitgemacht und überlebt hat, immer mit bestem olivenöl gefüllt in meinem gewürzregal am herd steht und täglich in gebrauch ist, und das, obwohl es eigentlich ein bißchen häßlich ist und als ölkännchen viel zu klein und – was noch schlimmer ist – obwohl es tropft! dieses glaskännchen stand vor mehr als einem vierteljahrhundert an einem geburtstagsmorgen als geschenk mit einer rose drin vor der tür meiner studentenbude. so viel liebe kann ich doch nicht einfach wegwerfen! keine frage: das bleibt.

das weggeben übrigens, fällt mir leichter, wenn ich weiß, dass dinge, die „noch gut“ sind, irgendwo anders weiter benutzt werden. in vielen städten gibt es mittlerweile verschenkmärkte. das sind webseiten für kostenlose kleinanzeigen, wenn man seine sachen kostenlos hergibt. das verringert den sperrmüll einerseits, spart geld und schont die umwelt. schicke sache das.

dann gibt es natürlich noch freecycle – das weltweite verschenkenetzwerk – mit ganz vielen lokal organisierten gruppen auch in deutschland. da habe ich schon einiges hingegeben, leichten herzens – und auch schon das eine oder andere „für umme“ abgestaubt.

da ist dann zwar „die sache“ weg - aber es bleibt ein gutes gefühl, ein ganz aufgeräumtes.


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Donnerstag, 23. September 2010

loslassen

pünktlich zum herbstanfang kullerte mir die erste kastanie vor die füße. da war ich bei fast sommerlichen temperaturen mit dem fahrrad unterwegs. bergab. mit rückenwind. trotzdem habe ich gebremst und die kastanie in meine hosentasche gesteckt.


weil ich das jedes jahr so mache. die kastanie, sagt man, verbessert die willenskraft. in ihr steckt die ganze kraft des sommers. diese kraft soll mich über den winter tragen. die erste kastanie nach den großen ferien macht mich stark. deswegen hebe ich sie auf und nehme sie mit.

was denn, der sommer schon wieder vorbei? ja. schon vorbei. der kastanienbaum trennt sich von seiner jahresproduktion an fortpflanzungsmitteln. eine gute zeit für mich, um auch selbst loszulasssen. oder zumindest ‚loslassen zu üben‘.

loslassen ist wichtig. es erleichtert, kann mich aber nicht nur heiter, sondern auch traurig stimmen. es ist immer auch ein abschied im loslassen, das gefühl von wehmut. ein weh und ein mut – alles zugleich!

loslassen ist wichtig, aber es ist nicht immer einfach. ich bemühe mich schon im alltag, nicht allzuviel anzusammeln. dann muss ich auch nicht so viel loslassen am ende.

also habe ich zum beispiel mit mir selbst so eine art vereinbarung getroffen, dass ich für jedes kilo zeug, das ich in meine wohnung hereintrage, irgendein anderes kilo zeug wieder hinausbringe. es funktioniert nicht immer. aber es hilft mir, nicht völlig dem sammeltrieb zu verfallen.

die chinesen haben ein sprichwort: wenn das alte nicht geht, kann das neue nicht kommen.

loslassen schafft platz. materiell - in der wohnung. immateriell - in der seele, im herzen.

alten kummer, alten groll loszulassen ist genau so wichtig wie endlich diesen karton wegzuwerfen mit alten verbindungskabeln aus meinen längst vergangenen ü-wagen- und pressekonferenz-zeiten. damit mache ich ganz sicher keine reportage mehr. loslassen. weg damit.

tonnenschwere steine. alte blumentöpfe, ganz verkrustet. weg damit.

manchmal passiert das loslassenkönnen wie von selbst: da gab es eine böse alte seelenwunde, eine kränkung sondergleichen. weil mal ein mann, den ich damals sehr liebte und von dem ich dachte, dass wir glücklich miteinander wären, mich schnöde gegen eine andere ausgetauscht hat. bescheid gesagt hat er mir natürlich erst, als sein frauentausch für ihn schon längst in trockenen tüchern war: „ich liebe dich halt nicht mehr.“ aus und vorbei. gründe konnte er mir nicht nennen. die andere wärmte ihn besser als ich. so war das halt. der schuft.

das chinesen-sprichwort also etwas abgewandelt: wenn der alte nicht geht, kann der neue nicht kommen.

viele jahre habe ich dem nachgetrauert. so sehr war ich verletzt und vor den kopf gestoßen. traue niemals einem mann und erst recht nicht traure um einen. ich kann aber auch hartnäckig sein in meiner trauer. bis ich neulich im internet zufällig über ein aktuelles foto von meinem ehemaligen prinzen surfte. da sieht der so was von bieder und fettig aus, und erst dieser alberne ziegenbart – also neee. zack! entzaubert. let him go. wozu google nicht alles gut sein kann.

nicht nur die kastanie lässt los. von heute an ist herbst. die meisten bäume werden demnächst ihre blätter loslassen. kräfte konzentrieren im innern. in den hügeln ringsum ist die weinlese in vollem gange. ernten, was geworden ist. loslassen, was im kommenden winter nur noch lästiger ballast wäre.

pflanzen haben es da einfacher als unsereins. die können nicht denken. die trauern nicht um ihre verlorenen früchte und blätter. außerdem geht im nächsten frühjahr sowieso alles wieder von vorne los.

für menschen ist das nicht so einfach. im großen gesehen, haben wir nur einen einzigen zyklus. wenn es einer den lebenssommer verhagelt, sehnt sie sich nach der jugend zurück, möchte noch mal von vorne anfangen dürfen – damit der herbst und der winter nicht so karg und so kalt werden.

pech gehabt. die jugend ist vorbei. loslassen die alten geschichten! unwiederbringbar. das leben fängt nicht irgendwann an, wenn ich dieses noch und jenes noch erledige und durchhalte. nein. das leben geht einfach immer weiter. und irgendwann war‘s das dann.

ausatmen. loslassen.

es ist vollmond heute, zum herbstanfang. bei abnehmenden mond fällt das loslassen angeblich leichter. ab jetzt also: ausatmen. loslassen.

einen neuen anlauf nehmen, tief einatmen – und loslassen mit dem ausatmen. es geht. es geht.

ich beginne mit einfachen übungen:

zeug bei ebay verkaufen, zum beispiel. das verstopft doch nur die ecken. die nicht benutzte caffetiera. ausatmen. loslassen. die schöne alte indische tagesdecke. ausatmen. loslassen. ein paar bücher, die ich sicher nicht noch einmal lesen werde. ausatmen. loslassen. das epiliergerät. ausatmen. loslassen. jedes kilo weniger zählt.

schwieriger ist es mit dem seelenballast, mit altem groll. ausatmen. mit grindigem kummer. ausatmen. ungeweinte tränen. atmen hilft. auch wenn es nicht so locker sitzt. ausatmen. loslassen. immer wieder. ich übe. das einatmen kommt von alleine. aktiv ausatmen ist wichtiger. bei schwierigen dingen zählt jedes gramm einzeln.

ich schau die kastanie an und weiß, was ich zu tun habe. weg ist weg: da weiß ich immer, wo es ist.

die inventur geht weiter ...


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Sonntag, 19. September 2010

wieder da II

ebenfalls aus dem ‚urlaub‘ zurück und schon seit einer woche wieder im büro: das katzebutz!


das ist äuglein, meine hütekatze. sie darf bei mir wohnen, während ihre besitzerin sich in fernnordost aufhält, in der stadt des langen frühlings. das kann dauern. es ist sehr weit weg. auch wenn es sich in zeiten von skype anhört, als wäre sie gleich um die ecke. ich vermisse die freundin sehr. dass die katze bei mir sein darf, ist ein großes vertrauensgeschenk.

so ist das im leben: die eine geht, die andere kommt. weil es sich um ein paar wochen überschnitt, war die katze so lange in einer katzenpension. dort habe ich sie am vergangenen sonntag abgeholt. eine erfahrung der besonderen art:

fit und gesund war das tier im august dort eingecheckt. krank und erbärmlich habe ich sie zurückgekriegt – und das war mir nicht einmal gesagt worden. ich merkte wohl, dass die katze nix fraß am sonntag, dass das eine auge etwas verklebt war, dass sie ab und zu nieste – und dachte: das ist wohl der stress vom hin- und herfahren, die neue umgebung....

„die katzenpension hätte längst einen tierarzt rufen müssen!“ schimpfte die tierärztin meines vertrauens, als ich ihr die katze am dienstag brachte. sie diagnostizierte einen schweren infekt: der rachenraum so stark geschwollen, dass schlucken unmöglich war (ein wunder, dass das tier überhaupt noch luft bekam), der ganze körper dehydriert vom wasserdünnen durchfall, das eine auge stark vereitert, flöhe obendrein! die ärztin startete das volle behandlungsprogramm mit antibiotika, cortison, infusion, spot-on, spezialnahrung, augensalbe, homöopathischer unterstützung.... plus telefonischer betreuung noch am selben tag, ob die behandlung auch anschlägt.

geduldig ertrug das katzebutz spritze um spritze, augensalbe dreimal täglich, einen weiteren termin. inzwischen geht es ihr besser, wir sind alle erleichtert bis nach china.

es kann nicht mehr lange dauern, bis sie dann auch selbst wieder eigene geschichten erzählt. sie sitzt schon auf der tastatur....


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Samstag, 18. September 2010

wieder da

seit einer ganzen woche schon bin ich back in my home-office. und mag hier noch gar nicht ankommen: (gefühlte) berge von post türmen sich und wollen beantwortet sein. stapel von formularen wollen ausgefüllt und abgeschickt werden. kontakte wollen reaktiviert, verabredungen getroffen und termine vereinbart werden und dann muss auch noch das auto zum tüv. baaah.

welcomebackhome-berg

kann gar nicht sagen, ob dieser orga-alltagskram anstrengender ist oder die tatsache, dass ich wieder voll für meinen eigenen haushalt verantwortlich bin. da habe ich ja in heiligendamm gelebt wie eine königin: musste weder kochen noch putzen noch einkaufen noch abwaschen noch aufräumen. das allerbeste: ich musste auch nicht staubsaugen! welch ein luxus.

damit ist jetzt natürlich schluss, ich stehe wieder mitten im leben. will sagen: ich bin wieder prekär! meine aussicht ist unverändert: zumindest optisch ganz wunderschön.

derzeit habe ich überhaupt keinen literarischen dreh. mo jour ist beschäftigt mit sortieren und aufräumen. innerlich und äußerlich.

das büro für besondere maßnahmen macht ein bißchen inventur. auch das muss mal sein.


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Mittwoch, 8. September 2010

see adé

das wars. sechs wochen rehab, von denen ich mir so viel versprochen hatte, sind rum. ich bin sehr müde, sehr erschöpft. alle tage waren so sehr fremdbestimmt. nie durfte ich einen eigenen rhythmus leben. einen einzigen freien vormittag hatte ich, gestern. und zwei freie nachmittage.

silbermöwe (larus argentatus)

die psychotherapie war nicht sonderlich 'hilfreich'. tinnitus, kopfschmerzen, depressionen unverändert. das bewegungsprogramm hat mich immerhin dabei unterstützt, fast fünf kilo abzunehmen. das bedeutet noch lange nicht, dass ich jetzt wieder schlank wäre. trotzdem: in butterpaketen gerechnet, habe ich zwanzig stück an ballast abgeworfen. gut, dass die weg sind.

mehr zeit fürs meer hätte ich gerne gehabt. da bin ich nie richtig angekommen, immer nur unter zeitdruck. davon war meine seele wie taub, ich habe das meer nicht gespürt. auch wenn es noch so schön gekribbelt hat die wenigen male, die ich ganz drin war.

niemals ist es mir so unter die haut gegangen, wie ich das von früher kenne. die innere freiheit, die das sein am meer mir sonst gegeben hat, die ich so sehr liebe und auch so sehr brauche, hat sich hier nicht eingestellt.

vielleicht lag es an den vielen zäunen, von denen jeder einzelne zu sagen schien: wir wollen nicht, dass du hier bist. so surreal, das alles. schade auch, dass der august so nass und so kühl war.

am meisten vermissen werde ich die rufe der möwen. sehr eigenwillig, sehr schön. silbermöwen sind es übrigens. das habe ich inzwischen gelernt. manchmal klingen sie wie junge katzen.

es fühlt sich an, als sei ich gar nicht hier gewesen. das ist so ungeheuerlich, dass es mich selbst erschreckt.


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Sonntag, 5. September 2010

schnapszahl

hier und da habe ich ja schon mal erwähnt, dass ich keinen alkohol trinke. niemals nicht. das mache ich nicht aus jux und dollerei, sondern weil ich ein süchtiger mensch bin.

ostseebad rerik: hafen

früher mal, da habe ich bisweilen so viel bierweinsektgrappa getrunken, dass ich alles doppelt sah. am ende war es im täglichen schnitt eine gute flasche wein.

jahrelang hatte ich versucht, weniger zu trinken. jahrelang war mir das nicht gelungen. aber nie war ich ernsthaft auf die idee gekommen, mit dem trinken ganz aufzuhören. wozu auch?

meine trinkmenge von durchschnittlich etwas mehr als einer flasche wein am abend lag schließlich nur knapp über dem, was deutsche weintrinkervereine und bierbrauerverbände als gesundheitsfördernd anpreisen.

ich wollte doch keinen herzinfarkt! also trank ich roten wein.
für die nerven trank ich hefeweizen, wegen des vitamin B - und zwar reichlich ....
zum beruhigen trank ich cognac.
weißen wein trank ich aus prinzip.
sekt sowieso, denn der macht ja nicht besoffen, sondern kieksig (also schon beinahe damenhaft).
all das andere zeug trank ich, weil es mir einfach schmeckte.

jedenfalls war ich eine großmeisterin im verdrängen unangenehmer wahrheiten. ich erzählte zwar allen, dass ich alkoholikerin sei - im grunde aber doch nur, um zu kokettieren. in wirklichkeit war ich nämlich keine, dachte ich: "alkoholiker, das sind die anderen - nicht ich!"

im sommer 1999 stellte ich endgültig fest: „ich trinke zu viel. wenn ich jetzt weiter trinke, dann kippt es, und mein weg geht nur noch abwärts.“ ich lief gefahr, mir alles, was ich so mühsam und hart erarbeitet und aufgebaut hatte, wieder zu zerstören.

noch stimmte die fassade: ich hatte meinen traumjob, den allerliebsten lieblingsmann, die wohnung ein schmuckkästchen, ein funktionierendes auto, zwei ausgesprochen eigensinnige katztiere - und gute leberwerte! ich wollte, dass das so bleibt.

im september 1999 hatte ich vier dienstfreie wochen. zeit genug für eine entgiftung, ohne dass es irgendwem im sender auffallen würde.

für den ersten freien montag vereinbarte ich einen beratungstermin in der ambulanz des entgiftungskrankenhauses meines vertrauens. der berater war mir nicht sonderlich sympathisch, aber er nahm mich ernst. er fragte nach meinen trinkgewohnheiten und sagte, dass für mich eine stationäre entgiftung tatsächlich in frage käme.

insgeheim war ich etwas enttäuscht, hatte ich doch gehofft, dass er mich wieder heimschickt mit den worten, dass bei mir alles in ordnung sei. bei mir war aber gar nicht alles in ordnung, und so bat ich um aufnahme zur entgiftung für die folgende woche.

warum ich nicht gleich am nächsten tag kommen wolle? bett wäre frei! er respektierte meine antwort, dass ich noch einen artikel zu schreiben hatte mit deadline am freitag und mich um die versorgung meiner zwei katzen kümmern müsse.

so kam es zum aufnahmetermin am 6. september 1999 – einem montag. den rest der woche schrieb ich meinen artikel und trank schon nix mehr, um die bevorstehende entgiftung zu unterstützen. mir ging's ziemlich schlecht dabei. aber von kaltem entzug hatte ich damals noch nichts gehört. ich schob alle symptome auf die nervosität wegen des bevorstehenden krankenhausaufenthaltes.

der artikel wurde mit ach und weh am freitag fertig. für die katzen fand ich eine pflegestelle.

ich verabschiedete mich vom alkohol am samstag, 4. september und trank den sonntag nix. auf diese weise ist meine abstinenz von anfang an ein sonntagskind gewesen: heute wie damals war der fünfte september ein sonniger sonntag.

genau elf jahre sind es heute, die ich alkoholfrei lebe. die zahl 11 ist echt. keine eine ziffer, die ich doppelt seh. meine erste "trockene schnapszahl", sozusagen. schnapszahlen der anderen art sollen in meinem leben nicht mehr vorkommen. wenn auch sonst so viel schiefgeht und ich so oft so unglücklich bin: wenigstens das gelingt mir, und meiner würde zuliebe soll das auch so bleiben.

dafür bin ich sehr dankbar und angemessen stolz.

über die vielen "warums" meines alkoholkonsums mit sich entwickelnder sucht und die nicht weniger vielen "wies" des alkoholfreien alltags werde ich noch das eine oder andere schreiben. es ist ja keine selbstverständlichkeit, süchtig zu werden. erst recht ist es keine selbstverständlichkeit, von heute auf morgen wieder damit aufzuhören.

so war das auch nicht - weder das eine noch das andere. keine einfachen themen, über die zu schreiben ich immer wieder mut und einen neuen anlauf brauche. schließlich steckt das klischee der "versoffenen schlampe" noch tief in den köpfen.

selbst heute - nüchtern wie nie zuvor in meinem leben - schäme ich mich bisweilen und habe große angst, in diese schublade gesteckt zu werden.

ein sehr vielschichtiges thema also. es wird mehr als eine besondere maßnahme brauchen, um das alles aufzudröseln ....


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Mittwoch, 1. September 2010

reizklima III

wie ich schon mehrfach berichtete, befinde ich mich derzeit in heiligendamm an der ostsee in einer gegend mit absolut guter reiner frischer luft. die klinik hat eine fachabteilung für atemwegserkrankungen.

mecklenburgische bäderbahn

besonders asthmakranke hoffen hier auf linderung. die lungenkranken werden meist in den zimmern der ersten etage untergebracht, direkt über dem eingang. von dort haben sie die schönste aussicht direkt auf die schienen der bäderbahn „molli“.

rein optisch ist gegen den kleinen nostalgischen zug nichts einzuwenden. auch von meinem fenster aus sind der kleine bahnhof und die schienen zu sehen. sehr pittoresk!

der molli wird von dampflokomotiven gezogen, die mit braunkohle beheizt werden. das qualmt und stinkt wie weiland mein kachelofen in berlin, wenn ich aus versehen briketten der marke „rekord“ gekauft hatte.

der molli schnaubt eingleisig zwischen bad doberan und kühlungsborn. die züge treffen sich halbwegs auf dem zweigleisigen heiligendammer bahnhof und fahren hier aneinander vorbei.

immer zur vollen stunde ist molli-alarm, zwischen sieben uhr früh und sieben uhr am abend. dann schließt sich mit heiterem klang die schranke und bleibt so lange unten, bis der zug von west nach ost angekommen und der zug von ost nach west abgefahren ist.

das kann schon mal gute zehn minuten dauern. die ganze zeit stehen und stauen sich dann die autos. direkt vor der klinik. unter der asthmaabteilung. mit laufendem motor.

während abgaswolken und dampfschwaden lustig vereint in der sonne wirbeln, hält drinnen im saal der chefarzt einen vortrag über die vorzüge der seeluft und betont, wie wichtig es sei, mit dem rauchen aufzuhören.

die überdachte raucherInnenecke ist fünfzig meter vom klinikeingang entfernt und stets gut frequentiert. geraucht wird auf dem weg dorthin, unter den fenstern der asthmakranken.

ich atme tief durch, freue mich über die gute luft und darüber, dass zumindest nikotin nicht mehr mein thema ist.


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