Achtung. Achtung. Achtung.
Wir sind umgezogen!

Januar 2021

Das Büro für besondere Maßnahmen ist ab sofort erreichbar auf mojour.de

Nach und nach werden alte Beiträge – ggf. aktualisiert und überarbeitet – dorthin umziehen. Bitte folgen ... :-)

Donnerstag, 23. September 2010

loslassen

pünktlich zum herbstanfang kullerte mir die erste kastanie vor die füße. da war ich bei fast sommerlichen temperaturen mit dem fahrrad unterwegs. bergab. mit rückenwind. trotzdem habe ich gebremst und die kastanie in meine hosentasche gesteckt.


weil ich das jedes jahr so mache. die kastanie, sagt man, verbessert die willenskraft. in ihr steckt die ganze kraft des sommers. diese kraft soll mich über den winter tragen. die erste kastanie nach den großen ferien macht mich stark. deswegen hebe ich sie auf und nehme sie mit.

was denn, der sommer schon wieder vorbei? ja. schon vorbei. der kastanienbaum trennt sich von seiner jahresproduktion an fortpflanzungsmitteln. eine gute zeit für mich, um auch selbst loszulasssen. oder zumindest ‚loslassen zu üben‘.

loslassen ist wichtig. es erleichtert, kann mich aber nicht nur heiter, sondern auch traurig stimmen. es ist immer auch ein abschied im loslassen, das gefühl von wehmut. ein weh und ein mut – alles zugleich!

loslassen ist wichtig, aber es ist nicht immer einfach. ich bemühe mich schon im alltag, nicht allzuviel anzusammeln. dann muss ich auch nicht so viel loslassen am ende.

also habe ich zum beispiel mit mir selbst so eine art vereinbarung getroffen, dass ich für jedes kilo zeug, das ich in meine wohnung hereintrage, irgendein anderes kilo zeug wieder hinausbringe. es funktioniert nicht immer. aber es hilft mir, nicht völlig dem sammeltrieb zu verfallen.

die chinesen haben ein sprichwort: wenn das alte nicht geht, kann das neue nicht kommen.

loslassen schafft platz. materiell - in der wohnung. immateriell - in der seele, im herzen.

alten kummer, alten groll loszulassen ist genau so wichtig wie endlich diesen karton wegzuwerfen mit alten verbindungskabeln aus meinen längst vergangenen ü-wagen- und pressekonferenz-zeiten. damit mache ich ganz sicher keine reportage mehr. loslassen. weg damit.

tonnenschwere steine. alte blumentöpfe, ganz verkrustet. weg damit.

manchmal passiert das loslassenkönnen wie von selbst: da gab es eine böse alte seelenwunde, eine kränkung sondergleichen. weil mal ein mann, den ich damals sehr liebte und von dem ich dachte, dass wir glücklich miteinander wären, mich schnöde gegen eine andere ausgetauscht hat. bescheid gesagt hat er mir natürlich erst, als sein frauentausch für ihn schon längst in trockenen tüchern war: „ich liebe dich halt nicht mehr.“ aus und vorbei. gründe konnte er mir nicht nennen. die andere wärmte ihn besser als ich. so war das halt. der schuft.

das chinesen-sprichwort also etwas abgewandelt: wenn der alte nicht geht, kann der neue nicht kommen.

viele jahre habe ich dem nachgetrauert. so sehr war ich verletzt und vor den kopf gestoßen. traue niemals einem mann und erst recht nicht traure um einen. ich kann aber auch hartnäckig sein in meiner trauer. bis ich neulich im internet zufällig über ein aktuelles foto von meinem ehemaligen prinzen surfte. da sieht der so was von bieder und fettig aus, und erst dieser alberne ziegenbart – also neee. zack! entzaubert. let him go. wozu google nicht alles gut sein kann.

nicht nur die kastanie lässt los. von heute an ist herbst. die meisten bäume werden demnächst ihre blätter loslassen. kräfte konzentrieren im innern. in den hügeln ringsum ist die weinlese in vollem gange. ernten, was geworden ist. loslassen, was im kommenden winter nur noch lästiger ballast wäre.

pflanzen haben es da einfacher als unsereins. die können nicht denken. die trauern nicht um ihre verlorenen früchte und blätter. außerdem geht im nächsten frühjahr sowieso alles wieder von vorne los.

für menschen ist das nicht so einfach. im großen gesehen, haben wir nur einen einzigen zyklus. wenn es einer den lebenssommer verhagelt, sehnt sie sich nach der jugend zurück, möchte noch mal von vorne anfangen dürfen – damit der herbst und der winter nicht so karg und so kalt werden.

pech gehabt. die jugend ist vorbei. loslassen die alten geschichten! unwiederbringbar. das leben fängt nicht irgendwann an, wenn ich dieses noch und jenes noch erledige und durchhalte. nein. das leben geht einfach immer weiter. und irgendwann war‘s das dann.

ausatmen. loslassen.

es ist vollmond heute, zum herbstanfang. bei abnehmenden mond fällt das loslassen angeblich leichter. ab jetzt also: ausatmen. loslassen.

einen neuen anlauf nehmen, tief einatmen – und loslassen mit dem ausatmen. es geht. es geht.

ich beginne mit einfachen übungen:

zeug bei ebay verkaufen, zum beispiel. das verstopft doch nur die ecken. die nicht benutzte caffetiera. ausatmen. loslassen. die schöne alte indische tagesdecke. ausatmen. loslassen. ein paar bücher, die ich sicher nicht noch einmal lesen werde. ausatmen. loslassen. das epiliergerät. ausatmen. loslassen. jedes kilo weniger zählt.

schwieriger ist es mit dem seelenballast, mit altem groll. ausatmen. mit grindigem kummer. ausatmen. ungeweinte tränen. atmen hilft. auch wenn es nicht so locker sitzt. ausatmen. loslassen. immer wieder. ich übe. das einatmen kommt von alleine. aktiv ausatmen ist wichtiger. bei schwierigen dingen zählt jedes gramm einzeln.

ich schau die kastanie an und weiß, was ich zu tun habe. weg ist weg: da weiß ich immer, wo es ist.

die inventur geht weiter ...


--------

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...