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Mittwoch, 16. Februar 2011

working poor II

ich arbeite gern. ehrlich. ich finde es toll, dinge zu tun und dafür geld zu kriegen, mit dem ich dann meinen lebensunterhalt bestreiten kann.

knospe: amaryllis

leider funktioniert das in den letzten jahren immer weniger. mein leben als freie radikale wurde zunehmend prekär: die honorare fürs texten, übersetzen, als dozentin oder kursleiterin reichen mir schon lange nicht mehr. im grunde mache ich nur noch diverse ehrenämter. für gemeinnützige vereine.

immerhin wurden mir deren aufwandsentschädigungen bis zu der höhe, die 1-euro-jobber kriegen (also rund 160 euro im monat), bislang nicht aufs arbeitslosengeld2 angerechnet. diese regelung soll mit der neuberechnung der regelsätze übrigens wegfallen. dann werden übungsleiterpauschalen als einkommen angerechnet. so viel zur ‚erhöhung von hartzIV' und ‚verbesserung der zuverdienstmöglichkeiten‘.

also habe ich gedacht, ich wechsel mal die branche, werde dienstleisterin und entdecke eine marktlücke. und zwar was echt nettes, wo ich nicht ständig allein am schreibtisch sitze, sondern viel rumkomme und wieder mehr mit menschen zu tun habe: eine ganz besondere maßnahme!

seit oktober habe ich an einer schicken idee gebastelt und entwickelt, recherchiert und gedingelt, vorbereitet und geplant. ich habe mit behörden gesprochen, mit  potentiellen kundInnen und diversen fachleuten. meine idee hat durchaus aussicht auf erfolg. ich könnte sofort loslegen, bräuchte noch nicht mal einen kredit.

aber halt! ich bin arm, lebe am prekären rand der gesellschaft (obwohl ich weder bildungsferne schicht bin noch einen migrationshintergrund habe) und beziehe hartz4. da kann eine sich nicht einfach selbständig machen! das muss vorher beim amt beantragt werden:

auf meine freundliche anfrage, wie denn die modalitäten seien, wenn ich mich neben dem bezug von alg2 im zunächst geringfügigen umfang im gewerblichen nebenerwerb selbständig betätigen möchte, kam nach nur viereinhalb wochen eine antwort vom „jobcenter“ meiner zuständigkeit:

die gute nachricht: ich brauche keinerlei genehmigung vom amt. das ist doch schon mal was! nur die gewerbeanmeldung. kein problem so weit.

was ich aber dringend brauche, ist die „Anlage EKS – Erklärung zum Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, Gewerbebetrieb (…) im Bewilligungszeitraum“. ohne die geht gar nichts. auszufüllen und zu beantragen im voraus. ungefähr fünf seiten kleinstbedrucktes dinA3-format quer bedruckt. dazu ungefähr sieben seiten kleinstbedruckte erklärungen und „ausfüllhilfen“. meine freundin sagte „so ein formular muss man sich auch erst mal ausdenken können. dazu bedarf es einer gewissen gesinnung.“

alle zu erwartenden ausgaben und eingaben soll ich penibelst nach monaten aufgeschlüsselt für sieben monate im voraus hellsehen. für jeden bleistift, für jedes stück papier brauche ich einen beleg bzw. einen kostenvoranschlag. was ich nicht plane, gilt nachher nicht als ausgabe. dann zählen nur die einnahmen.

ich darf auch nicht einfach anschaffen, was mir sinnvoll erscheint: das fräulein vom amt hat da ein gutes wörtchen mitzureden und kann mir meine betriebsausgaben nach persönlichem gutdünken als „nicht angemessen“ aberkennen. wenn ich also den luxusbleistift aus dem fachgeschäft kaufe und nicht den aus dem hier-alles-china-billig-laden, ist das meine privatverzweiflung.

ein paar kleinigkeiten wie internetdomain und telefon, die ich während meiner planung schon bezahlt habe, werden ebenfalls nicht als betriebsausgaben anerkannt. klar, die habe ich ja auch vom regelsatz bestreiten können.

was mich nun völlig verwirrt und ausbremst: als alg2-empfängerin muss ich doppelte buchführung machen. eine fürs finanzamt und eine zweite völlig andere fürs arbeitslosenamt. denn „steuerrechtliche bestimmungen“ gelten nicht im jobcenter.

zum beispiel die fahrtkosten: ‚normale‘ selbstständige dürfen pro gefahrenen kilometer 30 cent als betriebsausgabe absetzen. emma arbeitnehmerin immerhin noch 30 cent pro entfernungskilometer als werbungskosten – also halb so viel wie die selbständige.

die selbstständige alg2-bezieherin hingegen muss mit 10 cent pro kilometer auskommen. obwohl ich nur ein klitzekleines sparauto besitze, decken die 10ct noch nicht mal die benzinkosten. den rest muss ich vom regelsatz bestreiten.

so rechnet das amt mich ‚reich‘, noch bevor ich überhaupt einen einzigen cent eingenommen habe. von dem hochgerechneten einkommen werden mir dann wiederum rund 80% vom alg2 abgezogen.

mal ganz abgesehen davon, dass ich mich frage, wie die mir zugeteilte freundliche sachbearbeiterin beim amt das alles beurteilen und dann auch noch korrekt berechnen will. sie hatte ja schon schwierigkeiten mit den grundrechenarten, als sie im vergangenen jahr nur mit den zwei zahlen von meinem brutto- und nettosold als hochschulsekretärin zu kämpfen hatte.

kein einziger ihrer bescheide war auf anhieb korrekt. neben all dem kokolores, den ich sonst an der backe hatte, musste ich ihr auch noch nachhilfe in den einfachen grundrechenarten addition und substraktion erteilen. von den schwierigeren wie plutimikation und diversion ganz zu schweigen!

mein fazit, leider: meine gerade erst knospende idee ist gestorben. erstens, weil ich mir nicht leisten kann, meine selbständigkeit mit dem regelsatz zu finanzieren. zweitens, weil ich den stress nicht ertrage, noch mehr mit dem amt zu tun haben zu müssen.

schade drum – deutschesland scheint irgendwie nicht zu wollen, dass arbeitslose aktiv und tätig werden. ich bin sehr frustriert.

die tollen formulare EKS gibt es übrigens bei der arbeitsagentur zum download. nur für den fall, dass mir vielleicht jemand helfen möchte und findet, dass das alles gar nicht so schlimm ist, wie es aussieht: arbeitsagentur.de > Formulare > Formulare für Bürgerinnen und Bürger > Arbeitslosengeld II


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