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Januar 2021

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Nach und nach werden alte Beiträge – ggf. aktualisiert und überarbeitet – dorthin umziehen. Bitte folgen ... :-)

Freitag, 11. Mai 2012

momenti italiani

momenti italiani

„für die italienischen momente im leben“ hat es mal in einer werbung*** geheißen. den namen des produkts erinnere ich nicht. wahrscheinlich hat es für mich nichts mit italien zu tun oder es kommt aus sonstigen gründen nicht vor in meinem leben.

der ausdruck aber ist hängengeblieben, und ich denke oft darüber nach.

sind alle augenblicke, die ich hier in Sanremo verbringe, italienisch schon allein deswegen, weil ich mich auf italienischem hoheitsgebiet befinde? oder braucht es für das augenblicksprädikat „italienisch“ noch etwas anderes? bin ich gar so dermaßen „deutsche“, dass mir echte italienische augenblicke gar nicht möglich sind?

wenn mich jemand (meist eine amtsperson) nach der staatsangehörigkeit fragt, sage ich im allgemeinen: „mein pass ist deutscher.“ und denke mir dazu: „... aber mein herz ist erdling.“ schließlich ist es nicht mein verdienst, dass ich mich ausgerechnet innerhalb der deutschen landesgrenzen dauerhaft und ohne visum aufhalten darf. da bilde ich mir nichts drauf ein.

für den planeten aber, auf dessen oberfläche ich gast bin, fühle ich mich in gewisser weise verantwortlich: ich möchte hier keinen schaden anrichten. das ist das mindeste. zum wohlergehen der erde beitragen können, wäre mir noch lieber.

am liebsten wäre mir, so etwas wie achtsame spuren hinterlassen zu können. so dass frau terra am ende sagt: „vielen dank, dass Sie hier waren, mo jour. bitte beehren Sie uns bald wieder“ und mir freundlich die reinkarnationsfomulare in die hand drückt.

also in etwa so, wie ich das auch hier mit meiner ferienwohnung halte: ich behandle alles mit liebevollem respekt, mache nichts kaputt, lege eher noch etwas dazu und werde auf jeden fall positive energie hinterlassen, so dass die besitzer am ende sagen können: „schön, dass Sie da waren. wir werden uns jederzeit freuen, Sie wieder begrüßen zu dürfen.“

das wäre ein guter „erdlingsmoment“.

zuück zu den italienischen momenten im leben. was macht die aus?

eine gewisse leichtigkeit? sicher. dazu ganz gewiss auch ein augenzwinkerndes „sich selbst nicht zu ernst nehmen.“ ein bißchen 'dolce far niente' – im positiven sinne von „nicht nur stur und verbissen (=deutsch) vor sich hin arbeiten, sondern sich selbst auch pausen zu gönnen und diese dann (ohne schlechtes deutsches gewissen!) zu genießen.

italienische momente können für mich auch solche sein, in denen es mal laut und deutlich wird (palaver palaver porca madonna!); wenn man danach mit einem freundlichen „va fanculo“ und einem schulterzuckenden „che me ne frega“ auseinandergeht. völlig egal, wer recht hatte!

aber es scheint mehr als das zu sein. auch eine gewisse sinnlichkeit gehört für mich dazu, sowie den/die andere/n respektvoll im auge zu behalten.

vielleicht sehe ich das alles gerade viel zu romantisch, schließlich bin ich hier in ferien, ein zahlender gast und gerne gesehen. das ist ja daheim in d-land nicht so. da bin ich dann auch weniger etnspannt.

italienische momente sind auch manchmal ganz konkret:

wenn ich zum beispiel die schwere einkaufstasche trage, plötzlich eine duftwolke von jasmin um die ecke weht und sie mir plötzlich viel leichter vorkommt.

oder wenn ich abends alleine im restaurant sitze, und plötzlich kommt vom nachbartisch eine rose herübergewandert mit einem freundlichen gruß und sonst gar nichts – ohne erwartung einer gegenleistung.

italienische momente sind für mich auch im straßenverkehr, wenn die mopeds mich rechts und links gleichzeitig überholen, sich an mir vorbeischlängeln, mir andere auf meiner fahrbahn entgegenkommen – da komme ich echt an meine grenzen, weil ich den verkehr lieber 'gut geregelt' habe. aber dann geht doch immer alles gut. hauptsache flott und locker durchkommen. wen interessiert da eine doppelte durchgezogene linie?!

oder wenn ich auf dem hier geliehenen fahrrad unterwegs bin: ohne licht weder vorne noch hinten, noch nicht mal katzenaugen, ohne klingel, ohne gangschaltung, laut klappernd als wolle es gleich auseinanderfallen, von zwei bremsen funktioniert nur die eine halbwegs … ähem. von einem offiziellen fahrradverleih! aber dann ist die aussicht so zum durchatmen schön, die meeresbrise so durftig – da stört das olle fahrrad mich gar nicht mehr. täte es mich stören, wenn ich auf dem weg zur arbeit wäre? vermutlich. der weg zur arbeit gehört für gewöhnlich nicht zu den italienischen momenten eines lebens.

ist es ein italienischer moment, wenn ich nachts extra das fenster offen lasse, um das meer rauschen zu hören – aber nicht schlafen kann, weil der kühlschrank im zimmer viel zu laut ist? inzwischen stelle ich ihn nachts ab, den kühlschrank.

wie müssten situationen in meinem alltag sein, damit ich sie zu 'italienischen momenten' erklären kann? sind die zutaten eher äußerlicher art, wie guter duft, angenehme geräusche, ein paar strahlend freundlicher augen? oder ist es eher die innere einstellung, momente welcher art auch immer als italienisch empfinden zu können? hier in bella italia ist ja auch nicht immer alles eitel sonnenschein und pure postkartenidylle.

hat es mit einem verzicht auf einen gewissen teil meines effektiven perfektionismus zu tun? würde ich das wollen?

die frage scheint eher – und das ist sie nach jeder reise, ganz egal wohin: „wie kann es mir gelingen, etwas von der entspannten gelassenheit meiner freizeit in den knallhart zähneknirschenden deutschen alltag hinüberzuretten? so dass ich mehr kraft habe, mich den deutschgrauen brutalitäten zu stellen?“

leider habe ich keine antwort darauf, weil ich mir hier zwei wochen leben mit scheuklappen erlaube und alles unangenehme ausblende so gut es eben geht, um den entsetzlichen druck zu lindern, der mir sonst die luft zum atmen raubt.

eiskalte briefe vom amt auf häßlichem grauen papier im postkasten zu finden, ist eindeutig kein italienischer moment. was könnte man dagegen halten, um traumata zu lindern? ein bißchen gluckern der espressomaschine reicht mir da jedenfalls nicht.

italienische momente im leben – das ist viel mehr, als ein paar azurblaue pixel jemals zum ausdruck bringen könnten. deswegen habe ich 'heute leider kein foto' für euch.



*** 
nachtrag:
das war natürlich der herr angelo, 1993:
ohne diesen charmanten 'errn wären so ein paar körnchen gefriergetrockneten kaffees mit gezuckertem magermilchpulververschnitt niemals zu 'italienischen momenten' aufgestiegen.
'eilige madonna!



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Montag, 7. Mai 2012

lido annunziata

riviera für anfänger #1

wenn man ans meer fährt, freut man sich aufs meer. davon gehe ich mal aus. das meer ist einfach da, gehört irgendwie allen und jeder darf hin und rein. einfach so. 


 einfach so?! überall?! wild und frei?! wie naiv!

von der ostsee weiß ich ja schon, dass es an manchen abschnitten kurtaxe kostet, wenn man die strandpromenade betreten, ja sogar überschreiten und ans, womöglich auch ins wasser will. und wehe, du kannst deinen ausweis nicht vorzeigen, wenn die kontrolle kommt! wenn quallen im wasser sind und du dann doch lieber nicht rein willst, kriegst du dein geld nicht zurück. pech gehabt.

auf der griechischen insel korfu gab es an manchen abschnitten liegestühle mit sonnenschirm zu mieten. der strand wurde von der gemeinde stückweise gegen gebühr bzw. höchstgebot bzw. schmiergeld verpachtet. trotzdem durfte man sein handtuch beliebig irgendwo parken und auch kostenlos baden gehen – nur eben nicht auf einer unbezahlten sonnenliege.

hier an der riviera ist der strand dicht. da gibt es kaum noch ein quadratzentimeterchen, das nicht kommerziell genutzt wird. ausgenommen die drei nassen meter entlang der wasserkante. da habe ich noch einmal glück gehabt! das ist transitzone, spazierengehen dort erlaubt – mein geliebtes wasserplitschen gratis.

die kostenlosen zugänge zum strand aber sind sehr schmal und liegen ziemlich weit auseinander. die muss eine erst finden! man darf da nicht einfach über kostenpflichtiges terrain geradewegs ans meer marschieren. oh no!

zum glück ist noch vorsaison. da ist es nicht ganz so streng - aber die vorbereitungen sind bereits in vollem gange. die riviera macht sich startklar für den sommer und takelt sich auf wie eine gealterte diva:

als erstes wird der damenbart abrasiert, die stoppeln sind häßlich. im falle meines strands bedeutet das: die verrotteten, stinkigen algen und aller anderer strandmüll werden stück für stück zusammengefegt und abtransportiert – oder dem nachbarn hingeschoben.

dann kommt die grundierung. wenn ich bislang immer gedacht habe, dass der sand am sandstrand aus dem meer kommt, so werde ich hier eines besseren belehrt: der sand für den goldgelben rivierastrand kommt aus dem baumarkt, wird hier lasterweise angekarrt und mit dem caterpillar bulldozer fein säuberlich schicht für schicht aufgetragen, geglättet, fixiert. sozusagen die grundlage fürs beach make-up, in einem freundlichen – na, nennen wir die farbe mal – saharabeige. ungefähr einen halben bis einen meter dick – je nach finanzieller lage und renommé der strandbarbetreiber.


eines ist schon mal klar: einen löffel voll sand als souvenir für meine sandstrand-sandsammlung daheim brauche ich von hier gar nicht erst mit nach hause nehmen. den könnte ich auch gleich aus dem bauhaus holen … auch muscheln finden sich hier kaum. die wenigen sehen so perfekt aus, dass ich mich schon frage, ob die von anfang an unter den geläuterten sand gemischt werden zu einem gewissen prozentsatz. könnte ja sein. für die zahlenden strandgäste. souvenir ist souvenir.

zwischendurch der gärende grünalgen-damenbart wird zum ärgernis: er wächst schnell nach, muss täglich entfernt werden. das machen die privaten. an den öffentlichen stellen sammelt sich der gärende schmodder in stinkenden bergen. gerne mal einen meter hoch. da macht das kostenlose baden dann auch keinerlei spaß mehr …

zurück zum beach make up. damit das makellos bleibt wie auf den postkarten, werden flugs überall verbotsschilder aufgestellt: ballspielen verboten, hunde und andere tiere verboten, lagern verboten, lärmen verboten … im übertragenen sinne: unsere diva benutzt einen altmodischen, nicht lange haltbaren lippenstift: küssen verboten – sonst blättert die farbe ab.

der rest der strandtakelage – wie ketten, glitzerfummel, strassgehänge, ringe, haarspangen und so zeug – kommt dann nach und nach in form von neuanstrich der umkleidekabinen, aufstellen erster sonnenliegen an regenfreien tagen, installieren lauter beschallung, erweiterung der speisekarte, reparatur der orgelnden minikinderkarussells, bepflanzen neuer blumenkübel … man kennt das auch von diversen internetgames, wo man immer noch ein upgrade kaufen kann, damit die kundInnen zufriedener sind, geduldiger bleiben und mehr geld ausgeben.

dass unsereins mehr geld ausgibt, ist ja der zweck der ganzen aktion: unsere alternde diva will ein ausverkauftes haus, vertickt ihre karten zu höchstpreisen! wie bei der premiere in der oper sind auch die strandliegen und sonnenschirme unterschiedlich teuer: nicht nur abhängig davon, ob man sie für einen halben oder einen ganzen tag nutzen möchte, sondern je nachdem, ob man auf der loge sitzt oder im orchestergraben.

will sagen: nicht nur im theater, sondern auch am strand kostet die erste reihe mindestens doppelt so viel wie die letzte. denn hinten hört und sieht man fast nix mehr vom meer. dafür hört man dort lauter strandansagen.

genau das bedeutet der titel: ein lido annunziata ist ein angesagter strand. einer, der bewacht wird von jemandem, der das sagen hat. der auch sagt, ob man ins wasser darf oder nicht. vor allem lautet die ansage, was es kostet.

(um ehrlich zu sein: wenn ich für meine täglichen strandspaziergänge zusätzlich bezahlen müsste, dann könnte ich sie mir nicht leisten. leider.)

ich bin sehr sehr froh, dass ich hier zu einer jahreszeit über der strandpromenade logiere, in der außer meeresrauschen tatsächlich kaum etwas zu hören ist. nur ab und zu rumpelt die sandstrandplanierraupe …

bevor sich der vorhang hebt und der große rummel losgeht, bin ich längst wieder weg. aber bis dahin - finde ich es hier wirklich so richtig richtig schön!


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Samstag, 5. Mai 2012

nel blu

ins blaue hinein“ - das sagt man bei uns ja gerne mal, wenn man die richtung noch nicht so genau weiß.

auch bei mir ist die richtung derzeit alles andere als klar. weil ich nachdenken muss, mich neu sortieren will. nachspüren, in welchem maße ich die diagnose „autistin“ in mich hineinintegrieren will, kann – und inwiefern ich sie nicht doch lieber außen vor lasse.



asperger syndrom? was ist das schon!? das hat irgendein mann sich ausgedacht. in den letzten jahren avanciert zur modediagnose. eine prima methode, um hochbegabte, eigensinnige querdenkerInnen zu pathologisieren. denn denkende menschen können ja ziemlich lästig sein für die allgemeinheit.

das asperger syndrom zählt aber nicht als hochkreative methode und besondere fähigkeit empfindsamer und intelligenter menschen, mit einer für sie in hohem maße belastenden umwelt im eigenen sinne (= eigensinnig) und angemessen umzugehen, sondern es gilt als behinderung. what a quatsch!

das kann sich nur eine neurotpye ausdenken von durchschnittlicher intelligenz. jemand, die keine, aber auch gar keine ahnung davon hat, wie anstrengend es sein kann, als mensch mit einem iq von über 140 sich ständig selbst ausbremsen zu müssen, nur um von den 'normalos' einigermaßen verstanden zu werden.

nur mal zum vergleich: es wäre nicht weniger anstrengend, als durchschnittlich intelligenter mensch (angenommer iq = 100) eine einprozentige minderheit zu sein. alle anderen würden auf einem iq von 60 dahindümpeln, sich aber für 'normal' halten, weil sie ja in der mehrheit sind. da würde doch auch der 100er-iq-typ rein aus selbstschutz ein paar überlebensmechanismen entwickeln, die den 60ern sicher sehr merkwürdig und 'unnormal' vorkämen ....

asp.syn ist nicht messbar. es ist nicht ansteckend. es ist eine variante im gehirn, für die es ein paar merkmale gibt. merkmale, die – jedes für sich genommen – alle auch als merkmale von hochbegabung oder von posttraumatischer belastungsstörung gedeutet werden können. so habe ich das bisher zumindest verstanden.

so what? mein asperger autismus ist also – wenn überhaupt – ein webfehler in den synapsen. wahrscheinlich aber eher ein sehr ausgefallenes, seltenes webmuster. kein fehler:

it's not a bug. it's a feature!“

trotzdem muss ich da weiter darüber nachdenken. selbst ohne diese neue diagnose wäre auch mal wieder eine auszeit fällig gewesen: von einem wenig erfreulichen, anstrengenden alltag einerseits.

von meiner diagnose 'PTSD' andererseits. denn auch das wurde ja nur diagnostiziert, fortan ich damit allein gelassen. therapie ist nicht mehr, kontingent aufgebraucht. klinik macht derzeit keinen sinn, sagt die ärztin, da müsste ich vorher stabiler sein. zur fortgesetzten retraumatisierung und weiteren destabilisierung aber trägt ja seit jahren munter das hartz-IV amt bei. neuerdings auch der vermieter noch zusätzlich. nicht stabil genug, keine traumatherapie. keine traumatherapie? ja dann kann sie auch umziehen, sagt das amt (und der vermieter sowieso, diese tumbe neurotype).

also nachdenken. zurück in meine mitte mitte finden.

wo könnte das besser gehen als an einem ort, wo tag und nacht sanftes wellenrauschen meinen tinnitus übertönt? wo ein strahlendes blau meinen düsteren gedanken einen heiteren anstrich gibt? wo der duft von 'lavendel, oleander und jasmin' nicht aus der waschmaschine kommt, sondern mich hinter jeder wegbiegung neu anweht, 'in echt'?



also bin ich ins blaue „dolce far niente“ gefahren. dorthin, wo das 'azzurro' und das 'blu dipinto di blu' ihren ursprung haben. vor allem dafür war es wichtig, dass die türen an meinem kleinen alten auto wieder abschließbar sind. nein, keine falschen vorurteile. es geht hier einzig und allein um mein subjektives gefühl von sicherheit:

wenn ich mich sicherer fühle, bin ich entspannter. wenn ich entspannter bin, kann ich besser nachdenken.

mein blauer luxus: eine wohnung direkt über der strandpromenade, die in dieser jahreszeit noch erfreulich ruhig ist.

eine weile keine verpflichtungen. kein arroganter vermieter. keine graue redaktion. keine blöde post vom amt. nicht mal nachrichten. soll die welt doch untergehen, das erfahre ich noch früh genug – und ändern könnte ich es ohnehin nicht.

es ist das erste mal seit mehr als fünfeinhalb jahren, dass ich länger als eine woche 'urlaub' habe. das geld für die reise habe ich mir von meinem dispokredit geliehen.

ich bin im blauen, ohne selbst blau zu sein. mein letzter besuch in diesem land liegt fünfzehn jahre zurück. auch damals war es mai. ich war allein auf sardinien. es war wunderschön. alles blühte! ich liebe diese eigensinnige insel. ein freund, der eigentlich hatte mitfahren wollen, sagte in ziemlich letzter minute ab. ich war sehr einsam. der wein war ausgezeichnet. ich betrank mich täglich.

auch diesmal bin ich allein. nicht auf sardinien, aber alles blüht. ich muss es bei lebendigem leibe aushalten, das eine wie das andere. keine drogen außer koffein und schokolade. jedenfalls kein alkohol.

das rauschen des meeres besänftigt meine wunde seele. mit jedem wellengang, den ich an der wasserkante entlang unternehme, glätten sich meine zerquälten nervenenden – von denen sich jedes einzelne zerfranst fühlt wie ein gespaltenes paragraphenzeichen. ungefähr zwei mal täglich eine stunde, das ist meine therapie.

schade nur: ich kann von hier aus nichts ändern an meinem leben, nichts verbessern, nichts erleichtern. aber vielleicht kann ich etwas kraft tanken für den schrecklichen alltag, für den ich dann wohl demnäxt auch noch einen schwerbehindertenausweis brauchen werde.

vielleicht kann ich neue strategien entwickeln, doch noch mal die weichen neu stellen, die richtung ändern.

und nein, ich will nicht bleiben wie ich bin. diese vorstellung, auch in meinem letzten lebensdrittel immer nur unglücklich und einsam zu sein und ständig in vielerlei hinsicht gegen meinen willen gefickt zu werden, ist keineswegs aufmunternd. genauso wie der gedanke daran, dass ich mein duftendes, wellenrauschendes azzurro-blu demnächst wieder werde verlassen müssen, ganz und gar unerträglich ist.

eigentlich möchte ich mich in diesem wunderschönen blau am liebsten in ein wunderschönes blaues nichts auflösen.

als zen-buddhistische philosophin aber weiß ich doch: das nichts ist nicht nichts, nicht einmal das blaue.

was wäre ich dann?! und wo bin ich überhaupt?!



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Donnerstag, 3. Mai 2012

plötzlich autistin

die mutter (wütend): „kind! du meins' immer, mer wollt' dir wat. isch komme ja jaar nit mie an disch eran [du denkst immer, man wollte dir etwas böses. ich komme gar nicht mehr an dich heran]!“
die freundin (zu besuch, ratlos): „ich fühle mich ausgeschlossen, wenn du mich alleine hier sitzen lässt und dich so in dich zurückziehst.“
ein mann (überheblich): „du bist eine komische frau!“
ein anderer mann (erleichtert): „ich halte es mit dir einfach nicht mehr aus!“
noch ein mann (gekränkt): „du sagst nie, was ist.“
der vater (vorwurfsvoll): „nun stell dich nicht immer so an, andere können das doch auch!“
. „sei doch nicht immer so empfindlich!“ (genervt)
. „du immer und deine befindlichkeiten ….“ (ungeduldig)
. „nun hab dich nicht so ….“
. „ich darf dich ja noch nicht einmal anfassen, wann ich will ….“ (beleidigt)
. „dir kann man es auch niemals recht machen ….“
. „du bist echt schrullig ….“
. „du hast eindeutig autistische züge ….“

indizien? hin-weise? be-weise? 

 
als ich vor rund zwei jahren das erste buch über hochbegabung las (andrea brackmann, hochbegabt und hochsensibel, darüber geschrieben habe ich damals in nathalies begabungsblog), kam ich zum ersten mal mit der these in berührung, dass es eine verbindung geben könnte zwischen einem hohen iq und autismus vom typ asperger.

eine 'freundin' hatte mich mit dieser 'diagnose' schon 2008 in verbindung gebracht.

im vorigen jahr stieß ich auf sabine kiefners blog „eine frau mit autismus“ - typ asperger. auch sie hochbegabt, unser iq fast gleich. ich las ihre einträge voller faszination und neugier.

ich arbeitete mich durch das internet, versuchte im wust der informationen die spreu vom weizen zu trennen, machte – mit aller gebotenen vorsicht – diverse selbsttests. die hinweise verdichteten sich.

im sommer vergangenen jahres meldete mich bei der hiesigen universitätsklinik. dort gibt es eine asperger spezial-sprechstunde.

zunächst hieß es: viele fragebögen ausfüllen und zurücksenden. dann geduldig warten. je nach dem ergebnis der fragebogenauswertungen wird man zu einem persönlichen gespräch eingeladen oder auch nicht. die warteliste ist lang. sehr lang.

im herbst erzählte ich meiner ärztin von meiner vermutung, von den fragebögen. sie kennt mich seit sechs jahren, ist neurologin und psychiaterin: „das ist völliger quatsch. Sie haben doch so viele ressourcen!“

im januar rief die uniklink mich an. es wurde ein termin zum persönlichen diagnose-gespräch vereinbart. das war heute vor drei wochen.

der herr universitätsoberarzt waren sich schnell einig. eindeutig autistin. vermutlich asperger. 'vermutlich' deswegen, weil es niemanden gibt, der eindeutige aussagen über mich in meiner kindheit machen könnte.

der schriftliche bericht ist noch nicht da. mit der mündlichen diagnose bin ich erst einmal allein gelassen. wie so oft in meinem leben.

seither versuche ich, mich neu zu sortieren und mir klarzuwerden, was das nun für mein weiteres leben bedeutet, autistin zu sein.

das etikett hat einen anderen beigeschmack. nicht mehr „frühkindlich sexuell traumatisierte kreative hochbegabte“ sondern „frühkindlich sexuell traumatisierte kreative hochbegabte autistin“.

damit bin ich vom high potential brain pathologisiert hin zur schwerbehinderten mit geistiger entwicklungsstörung.

patsch!

der kollege dr. dr. an der uniklinik widersprach der diagnose nicht.

ich war mir nicht sicher, ob ich in der nun zugewiesenen autismus-schublade wirklich bleiben möchte. zwar hatte ich die untersuchung zur abklärung selbst angestoßen, aber es wäre mir auch recht gewesen, wenn ich mit meinen „symptomen“ weiterhin unter dem spektrum „hochbegabung mit ausgeprägt hoher empfindsamkeit“ hätte segeln können.

das wäre charmanter. die autistische behinderung brauche ich nicht wirklich. das klingt so dequalifizierend.

der arzt sagte: „es gibt auch hochbegabte, die keine autisten sind. das hängt nicht automatisch zusammen.“ aha.

er sagte auch: „Sie müssen mit dieser diagnose nicht in die gosse.“ vielen dank, herr doktor. er war durchaus respektvoll.

dass ich bei meiner derzeitigen arbeitsstelle schon nach vier stunden völlig am ende meiner kräfte bin und nachmittags nichts mehr auf die reihe kriege, sondern oftmals nur noch heulend in der ecke hänge, wunderte ihn nicht.

er sagte noch: „es ist nicht selten, dass autisten vom typ asperger eine sucht entwickeln, um den anforderungen der 'neurotypischen' welt gerecht werden zu können.“ dieser arzt ist eindeutig ein neurotyp. ich erlebte die begegnung mit ihm übrigens nicht als unangenehm, alles in allem.

andererseits: diese diagnose entschuldigt nichts, erklärt aber manches. womöglich nicht alles, aber vieles. einzelne facetten meines in-der-welt-seins, wie es nun einmal ist. meine schrullen zum beispiel. angefangen vom immer gleichen ritual des kaffeekochens mit der caffetiera bis hin zum ständigen gefühl, nicht von dieser welt zu sein, nirgends dazuzugehören, mich wie unter einer glasglocke zu bewegen.

was ist und was wird, das gilt es nun herauszufinden. oder einen teil davon. es bleibt spannend.


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Dienstag, 1. Mai 2012

autoschlüssel

seit jeher bin ich eine eher vorsichtige, manchmal auch ängstliche frau. seitdem ich prekär lebe und versuche, mit meinen finanziellen mitteln, die bisweilen unterhalb des existenzminimums liegen, das maximum an mir möglichem luxus zu leben, bin ich in vielen angelegenheiten noch zurückhaltender geworden.

impatiens (fleißiges lieschen) gefüllt - farbe: porzellanrosa


mein luxus ist immer relativ. ich entscheide oft sehr genau, wofür ich meine paar kröten ausgebe und wofür nicht. manches, was im existenzminimum nicht vorgesehen ist, leiste ich mir trotzdem. das sparen an anderer stelle ist kaum möglich. ich tue es trotzdem und verzichte bisweilen auf dinge, auf die andere niemals verzichten könnten.

eines meiner luxusgüter ist das kleine alte auto. es hat fast zwanzig jahre auf dem kilometerzähler. ein ford fiesta in black, mein 'kleines schwarzes'. es fährt immer noch zuverlässig, wenn auch nicht sehr schnell.

seit dem letzten TÜV im herbst 2010 gab es keine nennenswerten reparaturen. nur ab und zu ein neuer satz zündkabel, wenn mal wieder der marder ausgerechnet unter meiner motorhaube sich sattgefressen hatte.

das einzige, was mich seit dem letzten TÜV wirklich etwas gestört hat, war das schloss an der fahrertür: es war ausgeleiert und ließ sich mit dem schlüssel zwar zu-, aber nicht wieder aufschließen.

schloß ich das auto ab, so musste ich vor der nächsten fahrt erst umständlich die beifahrertür aufschließen, von dort ins auto hineinkrabbeln, innen auf den fahrersitz klettern und die fahrertüre von innen öffnen. das war die sichere variante.

weil ich aber nicht nur ängstlich sein kann, sondern auch so dermaßen bequem, dass es meine vorsicht bisweilen aushebelt, ließ ich das auto immer offen stehen. der gerechtigkeit halber schloß ich weder die fahrer- noch die beifahrertüre mehr ab. anderthalb jahre lang. es passierte nichts. mein harmloses landleben hat auch seine positiven seiten.

auch wenn ich mal in die stadt fuhr, ließ ich die fiesta immer offen stehen. oft auch die fenster einen spalt weit heruntergekurbelt, damit es sich nicht so aufheizte, wenn es in der sonne stand. es heizte sich zwar trotzdem auf, aber sonst passierte nichts.

hin und wieder dachte ich daran, das defekte türschloss einmal zu erneuern oder ein noch funktionierendes gebrauchtes irgendwo günstig aufzutreiben. aber vor dem aufwand des aus- und einbauens bzw. den damit verbundenen kosten schreckte ich zurück.

autowerkstätten gehören zu den orten, um die ich als prekär lebende frau lieber einen großen bogen mache. einerseits aus kostengründen. da gab es schon oft böse überraschungen. andererseits auch wegen des bisweilen vorkommenden respektlosen umgangs der werkstattmänner mit mir als kundin. auch da habe ich als frau schon böse überraschungen erlebt.

in puncto autoreparaturen fahre ich also eine bisweilen leichtsinnige vermeidungsstrategie.

was dann in diesem frühjahr mit der fiesta passierte, kündigte sich schon eine weile vorher an und war sehr lästig:

nicht mehr nur das schloss der fahrerseite funktionierte nicht mehr. auch das schloss der heckklappe für den kofferraum ging erst immer schwerer, dann nur noch manchmal und schließlich überhaupt nicht mehr auf.

der befürchtete zeitpunkt war gekommen: mit der defekten fahrertür, das konnte ich noch irgendwie dingeln. aber eine defekte kofferraumklappe – das ging gar nicht mehr! ich musste etwas unternehmen. eine reparatur musste her, wenn nicht gar zwei!

es dauerte mehrere wochen, bis ich an einem besonders mutigen tag (und auch im hinblick darauf, dass ich mit dem auto eine etwas größere reise plante) mich zum dörflichen werkstattmann meines vertrauens wagte.

der ist sehr nett und korrekt und zieht einem keinesfalls schon mit blicken das geld aus der tasche. freundlich sah er sich zunächst meinen schlüssel an. klare diagnose: „total abgenutzt.“ ob ich noch die schlüsselnummer hätte oder zumindest einen zweitschlüssel?

das fiesta habe ich vor fünf jahren gebraucht gekauft aus zweiter oder dritter hand, unterlagen gab es keine mehr dazu. aber ein ersatzschlüssel ist tatsächlich noch vorhanden. der besteht aber nur aus schlüsselbart und sonst fast nix. den kriege ich im schloss nicht gedreht und benutze ihn deswegen nicht.

der kompetente werkstattmann empfahl, erst mal den schlüssel nachmachen zu lassen und es damit zu probieren. kosten seiner diagnose und empfehlung der konkurrenz: null.

die große fordwerkstatt in freiburg ist eigentlich direkt nebenan von da, wo ich derzeit in der redaktion arbeite. ich bin schon oft daran vorbeigeradelt. ein paar tage später, in denen ich erst einmal wieder neuen werkstattkonfrontationsmut sammelte und nach einem vorsichtig mich vorbereitenden informationstelefonat fuhr ich mutig auf den ford-parkplatz stellte meine kleine alte schwarze gurke lässig zwischen den neuen gefühlt fünfmal so großen boliden ab. das sah putzig aus.

hineinmarschiert zum servicepoint. aufgabe erklärt. herr servicepoint besah sich den alten schlüssel, marschierte damit hinaus zum auto, wollte kaum glauben, dass das noch fährt und versuchte, mir vier neue schlossbolzen zu verkaufen. ich bügelte das freundlich ab mit dem hinweis darauf, dass demnächst ein neuer TÜV fällig sei – und wenn mein kleines schwarzes den bestanden habe, würde ich anschließend gegebenenfalls auch über neue schlossbolzen à 100 öre inklusive einbau das stück nachdenken. aber nicht jetzt.

er gab sich geschlagen und schlug mir einen neuen schlüssel vor, den könne die werkstatt gleich anfertigen. genau das war es, was ich im telefonat am vortag herausgefunden hatte: rohlinge vorrätig, anpassen kostet rund 13 euro.
für die wartezeit von etwa fünfzehn minuten bot herr servicepoint mir einen stuhl und einen kostenlosen kaffee an – und verschwand mit meinem schlüssel im werksbereich.

ich nahm dankend an. der kaffee war lecker.

der schlüsselschleifermeister höchstpersönlich brachte mir sein werk und ging mit mir noch einmal hinaus auf den parkplatz. alle schlösser inklusive zündschloss funktionieren mit der neuanfertigung einwandfrei. neue schlösser braucht es erst einmal nicht.

der preis: erleichternde 12euro99, inklusive mehrwertkaffee.

das einzig schwierige an der sache: jetzt muss ich mich erst einmal wieder daran gewöhnen, mein auto auch abzuschließen. oft vergesse ich es noch aus alter gewohnheit. oder ich bin ganz überrascht, wenn ich einsteigen will und die fahrertür verschlossen vorfinde.

nach anderthalben jahren ist das eine gewaltige umstellung. aber sicherer ist es doch. das ist mir gerade wichtig. ich werde euch zu gegebener zeit wissen lassen, warum.

bisweilen schmunzele ich über meine vermeidungsstrategien und darüber, wie sehr ich mir das leben doch selbst auch schwer mache mit meinen ängstlichkeiten. aber es ist, wie es ist:

für mich war es eine große heldinnentat, diese aufgabe zu lösen. für andere wäre es klickerkram, nicht mal ein zucken mit der wimper. ich aber bin froh und dankbar, dass mir das – wie so vieles andere auch – ohne alkohol gelungen ist.


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